Konservative Panik in Paris

■ Nach dem Rücktritt Alain Juppés suchen Frankreichs Konservative ein Rezept. So recht fällt ihnen nichts ein

Paris (taz) – Seit die französischen Konservativen wissen, daß sie ein Volk regiert haben, das in seiner großen Mehrheit gegen sie ist, herrscht Panik in Paris. Als erster fiel Alain Juppé der Wahlniederlage zum Opfer. Der Premierminister, den Präsident Jacques Chirac vor zwei Jahren ins Amt gehievt und seither noch gegen jeden Sturm und Streik unterstützt hatte, begründete seinen Rücktritt am Montag abend damit, er wolle der Modernisierung in Frankreich nicht im Wege stehen.

Die Konservativen reagierten erleichtert auf den Abgang des Premierministers, der in Rekordzeit die Höhen der Unpopularität erklommen und sich dort oben gehalten hatte. Von Juppés Nachfolger werde „Frankreich anders regiert werden“, behauptete Expräsident Valéry Giscard d'Estaing (UDF). Exminister Nicolas Sarkozy von der neogaullistischen RPR prahlte: „Wir haben umgehend Konsequenzen aus der Botschaft der Wähler gezogen.“

Wie eine „andere Regierung“ personell aussehen soll, teilten die Wahlkämpfer nicht mit. Die Spekulationen über Juppés konservativen Nachfolger schlugen deswegen gestern in Paris hohe Wellen. Als Favoriten wurden der Expremierminister Edouard Balladur sowie Parlamentspräsident Philippe Séguin (beide RPR) gehandelt. Ersterer hat sich als Pro-Maastrichtianer unter Beweis gestellt. Sein Handicap: Er hat Probleme mit Chirac, gegen den er als Präsidentschaftskandidat angetreten war, was Chirac als „Verrat“ einer 30jährigen Freundschaft verstand.

Zweites mögliches Handicap: Die Franzosen erinnern den Premierminister Balladur, der seine Gattin siezt und seine Handschuhe selbst zu Begrüßungen nur unwillig abstreift, als ausgesprochen distanziert und wenig kommunikativ. Séguin hat ein völlig anderes Profil. Er ist Euroskeptiker, und das schon seit 1992, als er Kampagne gegen das „Ja“ im Referendum über die Maastrichter Verträge machte. Bei der Bonner Regierung gilt er deswegen als unzuverlässiger Kantonist. Die Franzosen schätzen an ihm seine soziale Ader – er war beispielsweise der einzige Konservative, der 1995 die streikenden Eisenbahner vor laufenden TV-Kameras besuchte. Im Gegensatz zu dem blassen Technokraten Juppé gilt Séguin in Frankreich als ausgesprochen politisch und mit einem starken persönlichen Charakter ausgestattet. Sein Mienenspiel und die Modulationen seiner tiefen und wegen der Nuschelei schwer verständlichen Stimme bei seinen Auftritten als Parlamentspräsident haben Theaterniveau.

In der – möglicherweise für die Wähler viel wichtigeren – programmatischen Frage hatten die Konservativen auch zwei Tage nach ihrer Wahlniederlage nichts zu bieten. In dieser Hinsicht waren auch die Erwartungen an die für gestern abend angekündigte Fernsehansprache von Jacques Chirac nicht besonders hoch.

Statt neuer Programmatik – die fünf Tage vor dem zweiten Wahldurchgang ohnehin schwer zu vermitteln wäre – setzten die Konservativen deswegen auf Panik, beschworen die „archaische Allianz“ von Kommunisten und Sozialisten und deren angebliche „Modernitätsfeindlichkeit“.

Der Appell an den Zusammenhalt aller Franzosen und an die Angst vor Chaos, auf den die Konservativen bei diesem letzten Gefecht setzen, ist ein alter gaullistischer Reflex. In schwierigen Momenten hat auch „der General“ so funktioniert. Dorothea Hahn