„Die behandeln uns wie die Tiere“

■ Kindervisa: Mehr als 1.000 Menschen drängten sich vor der Ausländerbehörde

Hamburg (taz) – Aus der Wolldecke guckt fast nur noch die Nasenspitze heraus. Dabei kann Erkan noch froh sein. In dieser Nacht regnet es nicht, kein norddeutscher Wind fegt durch die Amsinckstraße, nur die Temperaturen sinken auf fünf Grad ab. Gegen die unfrühlingshafte Kälte und die Müdigkeit hat er sich eine Thermoskanne Kaffee mitgebracht. Zum Pinkeln muß er sich in der Seitenstraße eine ruhige Ecke suchen. Erkan steht schon zum drittenmal in der Schlange vor der Hamburger Ausländerbehörde.

Der junge Türke will seine Aufenthaltsgenehmigung verlängern. Doch eine Wartenummer zu ergattern war ihm bisher nicht gelungen. Heute, ist er überzeugt, wird es klappen. Schon seit 21 Uhr gestern abend steht er hier, höchstens 20 andere sind vor ihm dran. Die Schlange hinter Erkan ist merklich kürzer geworden als noch vor wenigen Tagen. In der Nacht zum Montag sind es nicht mehr über 1.000 Menschen, sondern „nur“ noch einige hundert, die sich hinter rotweißen Absperrgittern drängeln.

Anlaß des Ansturms ist die von Innenminister Kanther verfügte Kindervisumpflicht. Danach brauchen auch Immigrantenkinder jetzt ein eigenes Visum, um Auslandsreisen unternehmen zu können. Bilder von tumultartigen Szenen, Polizeieinsätzen und Müttern, die mit heulenden Kindern vor den Türen campierten, hatten daraufhin einen öffentlichen Aufschrei ausgelöst. Innensenator Hartmuth Wrocklage (SPD) sah sich gezwungen, „Sofortmaßnahmen“ zu ergreifen. Schließlich hatte er die Kindervisumpflicht freudig begrüßt, ohne die Voraussetzungen für ihre Bearbeitung zu schaffen. In Feuerwachen richtete die Ausländerbehörde vor einer Woche über Nacht Außenstellen ein, um dezentral Visa für Migrantenkinder zu bearbeiten.

„Chaos-Behörde“ titelten die Zeitungen dennoch, denn die Schlangen blieben. Aus keiner anderen Metropole mit hohem Ausländeranteil wird ein derartig schlimmes organisatorisches Desaster gemeldet. „Das Kindervisum ist nur die Spitze des Eisbergs“, bestreitet Rechtsanwalt Mahmut Erdem von der Grün-Alternativen Liste (GAL) die Behauptung des Innensenators, hier ginge es nur um einen unerfreulichen Engpaß. Die Zustände vor und in der zentralen Anlaufstelle für Hamburgs 260.000 AusländerInnen seien seit Jahren „unzumutbar“, „unmenschlich“ und im Augenblick nur „noch schlimmer“ als der „Normalzustand“. Mitglieder des privaten Sicherheitsdienstes, der im Hause für Ordnung sorgen soll, wurden im vergangenen Jahr wegen Körperverletzung verurteilt. Angestellte der Ausländerbehörde standen wegen Korruption vor Gericht.

„Ich bin auch Steuerzahler und lebe seit dreißig Jahren hier!“ ruft ein iranischer Geschäftsmann erregt. „Und sehen Sie sich das an! Die behandeln uns wie Tiere.“ Ihm und dem Rest der Stadt ist klar: Keinem Deutschen würde so etwas zugemutet. Am Montag morgen aber waren die Schlangen schon eine halbe Stunde nach der Öffnung der Behörde plötzlich verschwunden. Wie kann das sein? „Verschlankte Bearbeitung“ macht's möglich, verrät die Innenbehörde. Keine Akteneinsicht, keine Prüfung. Seit Montag, sagt Anne Harms von der kirchlichen Beratungsstelle „Fluchtpunkt“, „wird einfach nur noch blind gestempelt“. Silke Mertins