Der Tisch, der „nicht ich“ ist

■ Blick zurück mit Charms: Das Zan Pollo Theater sucht die Distinktion mit der Feier seines 21jährigen Jubiläums und hat den „Glycerinvater“ wiederaufgenommen

Mama, ich heirate heute!“ säuselt der junge Mann. „Was?“ kreischt die schwerhörige Alte. Er schreit, sie versteht alles falsch, immer irrwitziger werden die Mißverständnisse, bis der Mann, außer sich vor Wut, die Mutter anfällt und sie mit seiner Krawatte erwürgt. Natürlich schaut die errötende Braut genau in diesem Moment zur Tür herein.

Daniil Charms ist ein König der gelungenen Pointe, heute könnte er als Sitcom-Autor viel Geld verdienen. Statt dessen hielt sich der russische Meister des Absurden mühselig mit Kindergeschichten über Wasser, die meisten seiner Texte erschienen erst lange nach seinem Tod. Mehrmals wurde der Dichter wegen des Vorwurfs verhaftet, er wolle die Arbeiter mit sinnlosen Gedichten vom Aufbau des Sozialismus ablenken. 1942, während der Belagerung Leningrads, ist Charms im Gefängnis verhungert.

Im Zan Pollo Theater ist ein Tisch blutrot gedeckt, an der Wand hängt ein Leninbild. Der Debattenclub tagt. Feierlich setzt der Vorsitzende zu einer Rede an. Aber die fällt seltsam schlüpfrig aus. Die braven Zuhörer, statt verlegen zu werden, umzingeln ihn und verpassen ihm für jede Anzüglichkeit einen Tritt oder eine Ohrfeige. Kurz vor dem Zusammenbruch klagt der Redner ehrbar: „Genossen, unter solchen Umständen ist es unmöglich, einen Vortrag zu halten!“

Oft sind es nur Kleinigkeiten, mit denen Charms die plumpe Wirklichkeit zu Fall bringt. Nur ein winziger Riß in einer scheinbar ganz alltäglichen Szene, der sich rasch erweitert und alles möglich erscheinen läßt. Manchmal stellt Charms der Normalität aber auch einfach grob ein Bein. Da reißt ein Freund dem anderen aus Versehen den Arm ab, oder ein abgeschnittenes Ohr wächst an der Backe wieder an. Woraufhin plötzlich wieder alles seinen gewohnten Gang geht: Die Miliz leitet die Untersuchung der Vorfälle ein.

Ilona Zarypows Inszenierung montiert etwa zwanzig Texte und Szenen unter dem charmstypischen Titel „Der Glycerinvater“. Auch ein paar Gedichte und ein Liebesbrief des Autors an die Schauspielerin Klavdija Vasiljevna sind dabei. Die Inszenierung, Zarypows erste Regiearbeit, wurde vor neun Jahren in derselben Form und mit denselben fünf wunderbaren Darstellern im Zan Pollo gezeigt. Anlaß der Wiederaufnahme ist das 21jährige Jubiläum des Theaters. Der 20. Jahrestag verstrich ungefeiert – den begehen schließlich alle, zu glatt und langweilig fand das Zan-Pollo-Team die runde Zahl.

Lustvoll machen die Schauspieler alle Wendungen der Charms- Texte mit, die diskreten Übertreibungen wie den faustdicken Irrsinn. Wie in einer naturalistischen Komödie deckt ein junger Mann (Ralf Räuker) den Tisch für ein intimes Essen mit der Angebeteten und probt schon mal die Verführung. Doch plötzlich fegt sein verrückter Onkel (Bernd Raucamp) wie ein Orkan herein, schmeißt die liebevolle Dekoration um und tritt in den Salat: purer Slapstick. Dagegen steht extrem subtile Komik, wenn eine Geigerin (Friederike Lüers) ein trauriges Lied spielt und ihre unglücklich verliebte Freundin (Marliese Sondermann) in genau denselben Tönen heult und jammert. Manche Szenen sind auf verblüffend anschauliche Weise philosophisch: Ein Mann (Bernhard Leute) schmeißt einen Tisch um, „weil er nicht ich ist“, er mißt den Raum um sich und markiert Kopf, Hände und Füße – „die Enden des Ich“.

Die Inszenierung will einen chronologischen Überblick über Charms' Werk geben. Der Mut zum Weglassen fehlte, deshalb dauert der „Glycerinvater“ zu lang, nämlich gut drei Stunden. Gegen Ende werden die Szenen böser. Die Belegschaft einer überfüllten Sankt Petersburger Wohnung verbrennt einen Mitbewohner, ein alter Zyniker will alle Kinder der Stadt in eine große Grube werfen. Düsterste Geschichten, die gleichzeitig auch auf das Lebensende von Daniil Charms verweisen. Miriam Hoffmeyer

Bis 15.5., Fr.–So., 21 Uhr, Zan Pollo Theater, Rheinstraße 45, Steglitz, im 2. Hinterhof