Gute Menschen

Zwischen Leerlauf und Hysterie: In aufwendigen Inszenierungen zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg Bruce Nauman, den Vater verschiedenster Club-, Trash- und Popstrategien, mit Videos, Audioinstallationen und Neonarbeiten. Nauman möchte sie als „Schlag ins Genick“ verstanden wissen  ■ Von Harald Fricke

Am Anfang war Video in der Kunst ein sehr intimes Medium. Die Filme wurden noch auf Monitoren ausgestrahlt, vor denen es sich das Publikum auf ein, zwei Reihen mit Stühlen bequem machen konnte. Selbst der Bildschirmauftritt von Joseph Beuys bei der documenta 1977 fand trotz Besuchermassen auf einem einfachen TV-Gerät statt. Video galt als hybride Angelegenheit, irgendwo zwischen Fernsehen und Kino angesiedelt und entsprechend für all jene Bestrebungen gemacht, das Öffentliche mit dem Privaten ohne große Effekte zu vereinen. Ziemlich cool eben.

Heute hat sich die Apparatur enorm ausdifferenziert, alle Welt läuft mit Camcordern herum und filmt den Alltag, während die Arbeiten von Videokünstlern wie Bill Viola oder Gary Hill auf meterhohen Wänden in abgedunkelten Kunsthallen gezeigt werden. Mit dem Wandel vom Low-Fi-Produkt zum Gesamtkunstwerk stieg der Marktwert ins Absurde: Allein die Anschaffung der Videobänder und Laserdiscs für eine Installation von Bruce Nauman kostet bis zu 250.000 Dollar, für die dazugehörigen Abspielgeräte, Monitore und Video-Beamer bezahlt man an die 70.000 Mark.

Die Wolfsburger Retrospektive mit 27 Audio-, Video- und Filminstallationen von Bruce Nauman ist insofern vermutlich auch finanziell ein Gewaltakt, der ohne die Unterstützung durch das Walker Art Center in Minneapolis, New Yorks MOMA, das Kunstmuseum Basel oder die Videoabteilung des Centre Pompidou kaum zustande gekommen wäre. Trotz der aufwendigen Inszenierung, für die speziell ein Labyrinth aus einem Dutzend weißer Zellen angefertigt wurde, gibt sich Gijs van Tuyl als Hausherr recht zurückhaltend.

Nachdem im Winter die junge britische Kunstszene mit allerlei Club-, Pop- und Trash-Strategien zu sehen war, wollte man nun eine Art Vaterfigur der Bewegung zeigen. Zu Recht. Kein Künstler der letzten dreißig Jahre hat mit dermaßen aggressivem Gestus, mit einer solchen Selbstdisziplin und Schärfe unmotivierte, monotone, ja nahezu stupide Handlungen in grundsätzliche Konflikte zwischen Körpererfahrung und Wahrnehmung zerlegt wie Bruce Nauman.

Bereits der erste Film von 1967, „Playing a note on the violin while I walk around the studio“, zeigt Nauman als schlaksigen jungen Mann, der bald zehn Minuten schweigsam und schwer autistisch seine Kreise im Atelier zieht, während er dabei auf einer Geige herumsäbelt.

Tatsächlich muß man die Minimal-Art eines Robert Morris oder Donald Judd mitdenken, damit sich der Kontext der enervierenden Performance erschließt. Während Judds streng reduzierte Industriekästen dem Publikum als Spiegel für die eigene Präsenz im Ausstellungsraum dienen sollten, läuft bei Nauman jede Adaption der Situation leer. Der Zuschauer sieht, wie wenig Einfluß er auf die ohnehin eintönige Handlung nehmen kann.

Zugleich wird der Zirkel, den Nauman mit seiner Aktion beschreibt, zum einzigen Anhaltspunkt der Wahrnehmung – irgendwann ergänzt man die Runden, die er außerhalb des Ausschnitts der starren Kamera abschreitet. Ohne das Atelier einmal nur vollständig überblicken zu können, wird man durch den Raum geleitet. Für Nauman war die Übung ein Versuch, der Frage nach der „Quadratur des Kreises“ ein Bild zu geben – daß es dafür unendlich viele Marschrouten gibt, ist immerhin eine plausible, in jedem Fall angemessen ironische Lösung.

Der karge Humor paßt zur Person. Anders als die Pop-art-Künstler der sechziger Jahre ist Nauman ungeheuer diskret und eigenbrötlerisch. Die Ausstellung in Wolfsburg mußte ohne ihn eröffnen, weil der publikumsscheue Künstler nicht gerne reist, sondern lieber auf seiner Ranch in New Mexico Rinder und Pferde züchtet.

1941 in Fort Wayne, Indiana, geboren, studiert er zunächst Mathematik und Physik, bevor er zum Kunststudium von Wisconsin nach Kalifornien zieht. Für die Kunstszene um Ed Ruscha oder John Baldessari hat er wenig übrig, Logik interessiert ihn mehr als Beat- Literatur, statt Byrds und Dylan hört er John Coltrane – weil seine Musik für Nauman den Eindruck vermittelt, „daß sie nicht im strengen Wortsinn fortschreitet, sondern sie geht einfach immer weiter, bis man schließlich aufhört“.

Free-Jazz als Vorstufe zur Performance? Schon 1966 gibt Nauman die Malerei auf, wechselt nach New York, begegnet dort der Choreographin Meredith Monk und der Tanzkompagnie von Merce Cunningham. Er stellt wabbelige Gummiskulpturen her und klaustrophobische Korridore. Die erste Gruppenausstellung, an der er 1966 in der New Yorker Fishbach Gallery teilnimmt, ist „Eccentric Abstraction“ betitelt, drei Jahre später wird er zu „Anti-Illusion, Procedures/Materials“ ins Whitney Museum eingeladen. Jasper Johns liebt sein Gespür für die Widerspenstigkeiten des Körpers, und die Kritikerin Lucy Lippard mag die Art, wie er winzige Veränderungen seiner Umwelt registriert und zuspitzt – „phänaumanologisch“, wie Marcia Tucker 1970 in Artforum schreibt. Seit ein paar Jahren führt ihn der Kunstkompaß von Capital als erfolgreichsten Künstler der Gegenwart.

Dennoch steht Bruce Nauman noch immer stellvertretend für eine randständige Kunst, die sich zwar Gedanken über das Verhältnis zur Realität macht, aber doch etwas komplett anderes abbildet. Im Leben sind die Dinge einfach, die Darstellung erst macht sie rätselhaft. Seinen Kommentar „The true artist helps the world in revealing mystic truth“ (Der wahre Künstler hilft der Welt mit der Enthüllung mystischer Wahrheiten) hat Nauman als Spirale in Neonschrift niedergeschrieben; für die Installation „Get out of my mind, get out of this room“ von 1968 genügte eine Kammer mit zwei in die Wand eingelassenen Lautsprechern, aus denen Nauman den immergleichen Satz von dumpfem Gurgeln bis zu hysterischem Krächzen changierend aufsagte. Mit der Zeit gibt allein der Rhythmus ein Gefühl für die gewaltsame Verknüpfung der beiden Befehle, während die Worte sich im Sound auflösen. Doch da haben die meisten Besucher die Kammer längst verlassen, und der vor sich hingrummelnde Künstler bleibt einsam zurück.

Die frühen Filme sind eine Übersetzung von Ballettschritten und Modern-Dance-Figuren in künstlerische Gesten, bei denen mit dem Körper anstelle von Skulpturen in allerlei Situationen die Haltbarkeit von Aussagen überprüft wird. Tatsächlich sind die auf Film und Video übermittelten Aktionen im Studio quälerisch: In „Pulling Mouth“ (1969) reißt sich Nauman für acht Minuten die Mundwinkel weit auseinander, für „Bouncing Balls“ (1968) schüttelt er sich die Hoden hart an der Schmerzgrenze; und manchmal balanciert oder stampft er auch einfach nur stundenlang durchs Studio.

Ob in den Performances, Neonarbeiten oder Videofilmen, stets geht es um Sprachfindung, Verwirrung und Neuorganisation. Nauman benutzt Wittgensteins „Vermischte Bemerkungen“ und kehrt all jene Unschärfen oder Mißverständnisse hervor, die zwischen Sprechen und Handeln entstehen können. Ausbaden muß das Ganze der Betrachter, dem die Aktionen wie mit einem „Schlag ins Genick“, so Nauman 1988 im Interview mit Joan Simon, das Dilemma verdeutlichen soll: „Man sieht den Schlag nicht kommen, er haut einen einfach um. Die Idee gefällt mir sehr, diese Art der Intensität, die einem keinen Anhaltspunkt gibt herauszufinden, ob man die Arbeit mag oder nicht.“

„Violent Incident“ von 1986 ist eine solche Arbeit, bei der man auf eine Monitorwand mit zwölf Fernsehern starrt, ratlos und doch fasziniert. Sie zeigt ein Experiment mit Gewalt: Mann zieht Frau Stuhl weg, sie kneift ihm im Gegenzug in den Po, er schlägt um sich, sie schüttet ihm einen Drink ins Gesicht, tritt ihm zwischen die Beine, zuletzt greift er zum Messer. Und Stop – man hört ein paar vernuschelte Anweisungen, dann wird die Szene mit vertauschten Rollen wiederholt.

SchauspielerInnen proben den Geschlechterkampf, der sich nach einer Weile auflöst in kleine Gewaltausbrüche. Durch die Dauer erscheint die Aktion noch unberechenbarer.

Ein Jahr zuvor entstand „Good Boy, Bad Boy“. Kein Video in Naumans Hölle der Kommunikation ist so diabolisch wie diese im Grunde simple Paarung: Eine 45jährige weiße Sprecherin und ihr etwa gleichaltriger Latino-Counterpart beten eine Liste mit Allerweltsweisheiten herunter: „Ich bin ein guter Mensch, du bist ein guter Mensch, wir sind gute Menschen.“ Mit der Zeit steigern sich die Setzungen, bald geht es um Sex und Tod, bald um Abhängigkeit. Wie im Wettstreit versuchen beide Personen das Publikums für sich zu gewinnen, bis die Frau zuletzt in einem Wutanfall ihre Botschaften herausbrüllt.

Doch da ist der zweite Bildschirm bereits dunkel, weil ihr Konkurrent seinen Text schneller abgelesen hat. Wie im Boxring spielt Nauman Sprechakt und Textinhalt gegeneinander aus.

Das Ziel ist Überwältigung. Was für ein unglaublicher Sog von diesen Exerzitien ausgeht, merkt man in Wolfsburg am eigenen Leib. Obwohl lediglich Monitore und Videogeräte aufgebaut sind, werden einem die Beine schon nach der dritten Installation schwer. Es liegt am raschen Wechsel der Proportionen und Fragmente, die Nauman auswählt: Plötzlich erscheint bei „ANTHRO/SOCIO (Rinde Facing Camera)“, das schon auf der letzten documenta zu sehen war, ein Gesicht auf die komplette Wandfläche projiziert, im nächsten Kabinett kauert sich eine winzige Figur auf dem Bildschirm zusammen; und dann wieder formen zwei Hände in Zeitlupe an einem Luftballon herum oder mischen Pokerkarten.

Nebenbei stürzen ständig Pantomimen vom Stuhl, abgetrennte Köpfe drehen sich in irrer Geschwindigkeit, brüllen „OK OK OK“ oder summen „MMMM“, bis man sich zuletzt selbst unvermittelt auf einem am Boden abgestellten Fernseher von hinten erblickt. Das ist alles sehr anstrengend. Der Körper stockt und sucht nach seinem eigenen Schwerpunkt, je schneller sich die Bildflächen um ihn verändern. Daß sich dabei die Hemmschwelle des Publikums senkt, merkt man zuerst an den Kindern. Völlig überdreht trampelt ein kleines Mädchen ihrem Vater auf den Birkenstock-Sandalen herum und lacht. Irgendwann zischt er: „Laß das jetzt! Wir sind hier im Museum!“ Aber das stört sie nicht mehr.

Bis 28.9. im Kunstmuseum Wolfsburg. Katalog: Cantz-Verlag, 176 Seiten, 39 DM