Kein Abbruch aus Not

■ Polens Verfassungsgericht verwirft liberalisiertes Abtreibungsgesetz

Warschau (taz) – Seit Januar diesen Jahres können Polinnen auch dann eine Schwangerschaft legal abbrechen, wenn sie sich in einer schwierigen finanziellen oder persönlichen Situation befinden. Doch das liberalisierte Abtreibungsgesetz vom Dezember 1996, das vor allem dem wachsenden „Abtreibungstourismus“ Einhalt gebieten sollte, ist verfassungswidrig.

So lautet das Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das gestern in Warschau bekanntgegeben wurde. Das Gesetz verstoße gegen das Lebensrecht des Embryos, da – nach Ansicht das Gerichts – die „Kleine Verfassung“ von 1993 das menschliche Leben in jeder Phase seiner Entwicklung schütze. Und dies bedeute „ab der Empfängnis“.

Der Sejm, das Abgeordnetenhaus des polnischen Parlaments, kann das Urteil des Verfassungsgerichts jetzt innerhalb der nächsten sechs Monate mit einer Zweidrittelmehrheit verwerfen. Dazu wird es jedoch wohl nicht kommen, da die Mehrheit des Sejm erst vor wenigen Monaten die Liberalisierung des Gesetzes durchgesetzt hatte. Die Verfassungsklage hatten noch im Dezember letzten Jahres 37 Senatoren erhoben: 12 von der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność, 20 von der Bauernpartei, die zusammen mit dem Demokratischen Linksbündnis (SLD) die Regierung stellt, und 5 weitere Senatoren der Opposition.

Die neue Verfassung, die die Polen am Sonntag mit einer Mehrheit von knapp 53 Prozent angenommen haben, enthält zwar kein, wie von der Kirche gefordertes Abtreibungsverbot, dafür aber zwei allgemeingehaltene Artikel über den „Schutz des Lebens, der jedem Menschen zusteht“ (Art. 38), und über das „Recht auf die Entscheidung über das eigene Leben“ (Art. 47). Auch werden die Urteile des Verfassungsgerichts laut neuer Verfassung künftig endgültig sein. Der Sejm wird Urteile des Verfassungsgerichts nicht mehr verwerfen können. Gabriele Lesser