Ende des Stillschweigens

■ Wir dokumentieren Auszüge der Rede von Prof. Dr. Jan Philipp Reemtsma/ Institut für Sozialforschung Hamburg, zur Eröffnungsveranstaltung der Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“am 28. Mai 1997 im Theater am Goetheplatz

Eröffnet worden ist diese Ausstellung vor mehr als zwei Jahren in Hamburg. Sie war Teil eines Projektzusammenhanges mit dem Titel „Angesichts unseres Jahrhunderts“, in dem Aspekte der Arbeit des Instituts einer interessierten Öffentlichkeit vorgestellt wurden und die das Jahr 1995 als Doppeldatum „Fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“und „Fünf Jahre vor Ende des Jahrhunderts“zur Präsentation nutzte.

Eine weitere Ausstellung „200 Tage und ein Jahrhundert“über Gewalt und Destruktivität in diesem Jahrhundert im Spiegel des Jahres 1945 war darunter; die Präsentation eines Bandes über die Entwicklung des Völkerrechts nach den Nürnberger Prozessen; eines über die Morgenthau-Legende und die in ihr untergegangenen historischen Fakten; eines, das die Entscheidung, die zum Einsatz der ersten Atomwaffen führte, rekonstruierte; und eben auch die Ausstellung „Vernichtungskrieg“und das ihr zugrunde liegende Buch.

Daß dies keine Wehrmachts-Ausstellung – im Sinne einer Ausstellung, die alle Aspekte der Geschichte der deutschen Wehrmacht von 1939 bis 1945 zeigen wollte – war, das konnte keinem Besucher entgehen. Erst einmal hieß sie nicht so. Sie hieß und heißt „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Sie zeigt drei Schauplätze des Kriegsgeschehens: Serbien, Weißrußland, den Weg der 6. Armee nach Stalingrad.

Daß sie weder das Geschehen in den Stellungen der norwegischen Küstenartillerie zeigte noch das in den beschlagnahmten Pariser Hotels, nicht das Warten auf die Invasion in den Atlantikbunkern, nicht die Siege in den Blitzkriegen in Ost- und Westeuropa, nicht den Alltag der Etappe hier und dort und dort, nicht Coventry, nicht das Proscenium Guernica, nichts über das Leid der russischen Soldaten im Winter, nichts über die Schrecken des Partisanenkrieges, nichts über den U-Boot-Krieg, nichts über den Widerstand der Offiziere des 20. Juli, nichts über das Unter-Beschußnehmen kapitulationswilliger deutscher Dörfer – ein ehemaliger Soldat hat mich in einem Brief gebeten, das Institut möge diese Ereignisse recherchieren und dokumentieren –, nichts über Kinovorführungen, nichts über Bordelle, nichts über Vergewaltigungen, nichts über Befehlsverweigerungen, nichts über die Heimkehrer, die Geschlagenen, die Verwundeten, nichts über die, denen es die Sprache verschlagen hatte und nichts über die, die erzählen wollten, aber keine fanden, die ihnen zuhören wollten.

Eine Ausstellung über „die Wehrmacht“war nicht intendiert, wurde und wird nicht gezeigt, aber auch keine über „die Verbrechen der Wehrmacht“; die denn auch bei Wahrung des bloß Exemplarischen ein paar Räume mehr füllen würden als diese Ausstellung tut. Es ist so legitim, über Verbrechen einer Organisation zu sprechen und nicht über alle ihre anderen Seiten, wie es legitim ist, von einigen und nicht von allen Verbrechen zu sprechen, für die sie verantwortlich ist. Die Ausstellung heißt, wie sie immer hieß: „Vernichtungskrieg“, im Untertitel „Verbrechen der Wehrmacht“.

Im Untertitel. Dieser übersetzt nämlich den Obertitel – eine juristische Terminologie verdeutlicht ihn: Es ging und geht der Ausstellung um den Vernichtungskrieg, den die Wehrmacht als Organisation im Konsens von politischer und militärischer Führung im sogenannten Osten, vor allem in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, führte. Voraussetzung dieses Krieges, Voraussetzung der Teilnahme an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung, der Dezimierung der nicht-jüdischen Zivilbevölkerung, der planmäßigen Ermordung von Kriegsgefangenen, war die explizite Außerkraftsetzung jener Regeln, die dazu da waren, Kriegshandlungen in einem klassischen Sinne von Kriegsverbrechen zu unterscheiden. So übersetzt sich der Ober- in den Untertitel.

Die Ausstellung ist niemals mit der Attitude präsentiert worden, zum ersten Male etwas zu beweisen, was doch längst nicht mehr bewiesen werden muß – seit den Nürnberger Prozessen übrigens nicht mehr, in denen die Wehrmacht gar nicht von irgendetwas freigesprochen worden ist, wie das „on dit“geht, wie die juristische Begründung lautet, warum ihr Oberkommando und der Generalstab nicht als verbrecherische Gruppierungen verurteilt worden sind, nicht mangels nachweisbarer Verbrechen sondern weil ihnen der Status einer Gruppierung im Sinne des Nürnberger Statuts nicht zukam, weshalb der Gerichtshof eine Sequenz im Sinne von Einzelverfahren dringend nahelegte. Das kann man alles ohne Schwierigkeiten nachlesen.

Die Ausstellung hat nicht von Anfang an jene Kontroversen herausgefordert, deren Zeuge Sie, meine Damen und Herren, nicht zuletzt in Bremen haben werden können. Die Reaktionen der Presse waren im März 1995 rundum positiv. Was uns verblüffte, war nur, wie einhellig vom Ende einer Legende und vom Ende der Legende der sauberen Wehrmacht geschrieben wurde – denn auf diese Weise hatten wir die Ausstellung nicht vorgestellt.

Daß die Wehrmacht – vor allem, wie gesagt, im Krieg im sogenannten Osten – teilhatte an den Verbrechen des Regimes, daß es tatsächlich einen hohen Grad von Konsens von politischer und militärischer Führung gegeben hatte, war tatsächlich bekannt. Aber, wie sich herausstellte, eben doch nicht so allgemein bekannt, wie man hätte annehmen sollen. Es war eben doch kein Zufall, daß diese Dimension der Jahre 1933 bis 1945 in der Rede des damaligen Bundespräsidenten von Weizsäcker nicht vorgekommen war und daß das Gedenkjahr 1995 nur im Rahmen dieser Ausstellung sich diesem Thema stellte.

Weil aber die Teilnahme an diesen Verbrechen gewohnheitsmäßig „Verstrickung“genannt wird, das heißt mit einem Wort bezeichnet wird, das einen Vorgang beschreibt, der passiv und gegen den eigenen Willen erlitten wird, schien es uns wichtig, den Grad an Aktivität und Intentionalität hervorzuheben, der denn doch bisher nur von einem kleinen Kreis von Historikern angesprochen worden war und der durch eigene weitere Forschungen verifiziert werden konnte.

Aber erklärt das die Aufregung, die über die nunmehr über zwei Jahre ihres Weges durch die Bundesrepublik und Österreich anwuchs, in Bremen eine Regierungskrise hervorrief und in München zu politischen Ausschreitungen führte? Wenn Kritiker der Ausstellung schreiben, sie dokumentiere doch nur, was ohnehin jeder wisse und gewußt habe, so bleiben sie die Antwort dafür schuldig, wo denn die Ursache für den behaupteten Skandal eigentlich liegt. Wie aber so häufig, zeigen die Texte, was sie nicht sagen: Er liegt im Zusammenhang von Wissen und Schweigen. (...)

Speers Anwalt Flechsner macht (in der Speer-Biographie, d. Red.) dieses bemerkenswerte Statement: „Es wurde mir schließlich in den dreißiger Jahren klar, daß es den Juden schlecht ging, daß sie nicht mehr Richter und Anwälte sein durften – und glauben Sie mir, ich habe Gott oft gedankt, daß ich nicht Jude war. Ich hatte jüdische Freunde und versuchte, ihnen zu helfen. Manchmal war das möglich. Man wußte, daß es gefährlich war, im Hitler-Deutschland Jude zu sein, aber man wußte nicht, daß es eine Katastrophe war. Ich wußte absolut nichts, bis eines Tages 1943 einer meiner Mandanten, der als Sanitäter in Rußland tätig war, mit Fotografien zurückkam, die Erschießungen von Juden zeigten. Ich riet ihm, sie zu verbrennen oder zu vergraben und niemandem zu sagen, was er gesehen hatte. Auch ich habe niemandem davon erzählt, nicht einmal meiner Frau. Ich glaube nicht, daß es ein Geheimnis war, daß Menschen hingerichtet wurden. Was wir nicht wußten, war, daß ein systematischer Massenmord stattfand.“

Bemerkenswert ist die Passage nicht zuletzt dadurch, daß Flechsner die Fotos, die er zu sehen bekommt, in einem Atemzug mit der in Deutschland selbst exekutierten Rassenpolitik nennt. Es bedarf für ihn der interpretatorischen Anstrengung nicht, daß der Krieg in Rußland ein Rassen- und Vernichtungskrieg ist. Wovon er nicht wußte, wie er sagt, das war es eben, was er doch zu wissen bekam. Wovon er wohl tatsächlich nichts wußte, waren die Vernichtungslager und die Gaskammern. An der Front scheint sich aber auch dieses, wenigstens gerüchteweise, herumgesprochen zu haben, und ebenfalls als ein Geschehen nicht wesensmäßig verschieden von dem, was sich unter den eigenen Augen abspielte.

Ernst Jünger – ein Schriftsteller, zumindest vor 1933 auf der äußersten Rechten, der literarische Zierdegen gleichsam des deutschen Militarismus nach 1918 – schreibt in den bald nach 1945 veröffentlichten kaukasischen Aufzeichnungen, über den Partisanenkrieg am Kaukasus (...), er schreibt darüber zunächst: „So wird es immer Gebiete geben, auf denen man sich von dem Gegner das Gesetz nicht geben lassen darf“, und bald zweifelt er generell an, ob die Mordaktionen in den Wäldern überhaupt etwas mit Partisanen zu tun haben. „Partisanen oder Banditen“, wie die deutsche Lesart lautet. Er hat nämlich davon gehört, daß Kinder oder Jugendliche ohne festen Wohnsitz gewohnheitsmäßig getötet werden. Mit der Begründung, sie könnten irgendwann gefährlich werden.

Jünger, der aus Paris als Beobachter in den Osten geschickt worden war, beschreibt die Atmosphäre und Physiognomien der Offiziere um ihn her. (...) „So erzählte der General Müller von den ungeheuerlichen Schandtaten des Sicherheitsdienstes nach der Eroberung von Kiew. Auch wurden wieder die Giftgastunnels erwähnt, in die mit Juden besetzte Züge hineinfahren. Das sind Gerüchte, und ich notiere sie als solche. Doch sicher finden Ausmordungen in größtem Umfang statt. (...) Ein Ekel ergreift mich dann vor den Uniformen, den Schulterstücken und den Orden, den Waffen, deren Glanz ich so geliebt habe.“Der Wehrmachtsoffizier Jünger unterscheidet die Uniformen und Kragenspiegel nicht mehr.

Es sei der Aufbau der Bundeswehr gewesen, die Nötigung, sie durch Generäle der Wehrmacht vollziehen zu lassen, die Ursache für das dann später kräftig verbreitete Redetabu geworden sei, ist eine weit verbreitete Ansicht. Sie ist sicherlich nicht ganz falsch, wie die Debatte um Kasernennamen gezeigt hat. Ich halte die Sache für komplizierter.

Die Sache des Nationalsozialismus war gründlich diskreditiert, und wo sie es nicht war, sorgte ein Unterbinden der öffentlichen Debatte dafür, daß sie es nur individuell nicht war. Eine Debatte um die Verbrechen der Wehrmacht hätte – anders als das sich verfestigende Wissen um die Vernichtungslager – in den fünfziger Jahren eine mit zu vielen Beteiligten sein müssen, eine Debatte, in der Kriegsziele, Methoden, Ideologien ebenso wie Ideale auf ganz unvorhersehbare Weise zur Sprache gekommen wären.

Insofern gab es etwas wie einen stillschweigenden Vertrag des Stillschweigens: „Wir reden weder über Verbrechen noch über Siege.“Thematisiert wurde das Leid und der Schrecken des Krieges an sich. Und der Deutsche als das Opfer schlechthin.(...)