Bollwerk am Mittelmeer

Als Europäische Kulturhauptstadt 1997 hat Thessaloniki internationale Architekten um ihre Entwürfe für eine Neugestaltung des Hafens gebeten  ■ Von Klaus Englert

Seit den neunziger Jahren befinden sich einige europäische Metropolen in einer ungebremsten Aufbruchstimmung. Mit zügigem Elan wird das traditionelle Stadtbild umgekrempelt, um es frühzeitig dem Bild des nächsten Jahrtausends anzupassen. Diese Entwicklung erinnert an Le Corbusiers Plan, aus dem Paris mit seinen traditionellen quartiers eine völlig neue Stadt, eine ville contemporaine entstehen zu lassen. In einer derartigen Umbruchphase befinden sich derzeit vier Städte: Berlin, Lille, Barcelona und Thessaloniki. Ins Berlin des 21.Jahrhunderts versetzt uns bereits eine Sony- Werbebroschüre, die mit Helmut Jahns Gebäuden am Potsdamer Platz „neuartige Erlebniswelten“ verspricht. Dabei ist der Trend nicht mehr der Supermarkt der siebziger Jahre, sondern das „Erlebniskaufhaus“. Und selbstverständlich müssen die Gebäude durch eine hochgezogene Glasfassade „lichtdurchflutet“ sein.

Anders als Berlin ist Euralille unter der Leitung von Rem Koolhaas' OMA bereits zum Experimentierfeld neuer urbanistischer Strategien geworden. Innerhalb von wenigen Jahren wurde in dieser eher provinziellen Region ein supermoderner Bahnhof für die TGV-Verbindung nach Paris, Brüssel, London und Frankfurt geschaffen, es entstand ein megalomanisches Kongreßzentrum für die „virtuelle Gemeinschaft“ (Koolhaas) des 21.Jahrhunderts, eine verwegene L-förmige Hochhauskonstruktion der Crédit Lyonnais und, last but not least, eine Shopping-Mall von Jean Nouvel. Auf der Tagesordnung dieser Architekten steht die Stadt der Zukunft, ein „neuer Typ des Urbanismus“ (Koolhaas), der eigene Ordnungsmuster schafft und doch dem Modell der Beziehungslosigkeit architektonischer Objekte oder der Instabilität des städtischen Gefüges folgt. Mit aller Macht wird versucht, die traditionelle Stadt des 19.Jahrhunderts, etwa Georges Haussmanns Paris und Otto Wagners Wien, zu Grabe zu tragen.

Zum Einkaufen mit dem TGV

Auch Barcelona hat sich für das nächste Jahrtausend gerüstet, wenn es sich im Jahre 2001 als Kulturhauptstadt Europas präsentiert. Auch hier ist der Bau eines neuen Bahnhofs für die Hochgeschwindigkeitsbahn konzipiert, die Barcelona mit Madrid und Paris verbinden soll. Zudem hat Norman Foster einen utopischen Masterplan für die Neuordnung des Umfeldes an der Hochgeschwindigkeitsstrecke erstellt, der die Vision von einem neuen Barcelona vorwegnimmt. Wie dieses neue Barcelona aussehen soll, wird schon heute in Umrissen deutlich. Durch großangelegte Umnutzung und Neugestaltung des alten Hafens entstand der Hafenkai Moll d'Espanya, ein teilkommerzialisierter Stadtraum mit Einkaufszentrum, Kino, Aquarium und Cafés.

Kritiker dieser Entwicklung sehen schon bald auch in Europa inszenierte Erlebniswelten entstehen. Alles unterstelle sich dann einer auf Sensation ausgerichteten Kommerzarchitektur.

Für Thessaloniki hat die Zukunft ebenfalls mit der Auszeichnung als Europäische Kulturhauptstadt 1997 begonnen. Auch hier will man mit aller Macht an die Spitze der architektonischen und technologischen Entwicklung. Ausdrücklich vergleicht man sich mit Barcelona, der prosperierenden Metropole am anderen Ende des Mittelmeers, denn auch in Thessaloniki streben die Stadtplaner eine Sanierung und Erweiterung der Altstadt an (siehe Seite 17). Gleichzeitig verweist man auf die Umstrukturierungen in Berlin oder Lille und erstellte einen Masterplan, der von einem für griechische Verhältnisse einzigartigen Kostenvolumen ausgeht. Ziele sollen eine „Verbesserung und Verschönerung des öffentlichen Stadtraums“ sowie eine „Neubestimmung des Stadtgefüges und des Erscheinungsbildes der Metropole Thessaloniki“ sein.

Architektur aus Wellen und Meer

Wie das zukünftige Thessaloniki in einigen Jahren aussehen soll, konnte man zuletzt in der Berliner Galerie „Aedes East“ studieren. Acht renommierte Architekten stellten dort ihre Modelle für die Umgestaltung der Küstenlinie Thessalonikis vor. Die Ausschreibungsbedingungen für die Hafenerweiterung sehen Piers und Pavillons vor, die sich „am höchsten Level des Architekturstandards orientieren“. Deswegen wurden nicht einfach die berühmtesten, sondern auch die modernsten Architekten eingeladen. Interessiert ist man an internationalen Aushängeschildern, nicht an einheimischen Architekten, ebwensowenig an einer wie auch immer gearteten Tradition mediterranen Bauens. Die Organisatoren wollen allen Ernstes den Küstenbereich Thessalonikis in „ein einziges Museum zeitgenössischer europäischer Architektur“ verwandeln. Derweil setzt der Tessiner Mario Botta mit seinem Entwurf auf Bescheidenheit. Er präsentierte in Berlin einen Kubus, der wie ein Bollwerk die Stadt von der Weite des Meeres abgrenzt. Die gestellte Wettbewerbsaufgabe einer Neubestimmung des Verhältnisses von Meer und Land interpretiert er auf eine nicht gerade überraschende Weise, indem er die Gestalt seines Pavillons der kompakten und geometrischen Struktur des Stadtbilds anpaßt. Den entgegengesetzten Weg geht die Architektengruppe Coop Himmelb(l)au. Die österreichischen Himmelsstürmer versuchten, die Architektur als etwas notwendig Statisches zu überwinden, sie erstellten Computergraphiken und konstruierten ein Modell, das die Paradoxie einer fließenden Architektur einlösen soll. Herausgekommen ist eine Architektur ohne Tektonik, eine Architektur der Wellen, des Wassers.

Der Pavillon von Coop Himmelb(l)au, oberhalb und unterhalb der Wasseroberfläche begehbar, ist sicher ein origineller Beitrag zur gegenwärtig vieldiskutierten dekonstruktivistischen Architektur. In diese Richtung will sich auch der Katalane Enric Miralles einreihen. Sein Verweis auf Derridas architektonische Spekulationen dient zwar der eigenen Standortbestimmung, doch sein Vorsatz, Pier und Pavillon im modischen Gewand einer Chaosarchitektur erstehen zu lassen, lassen jegliches, wenngleich zu dekonstruierendes Leitbild vermissen. Sein Pier wirkt wie ein Konglomerat im Meer verstreuter Inseln, während der Pavillon wie ein Kartenhaus kurz vor dem Einstürzen erscheint. Der Entwurf des Niederländers Rem Koolhaas orientiert sich ebenfalls wie Coop Himmelb(l)au an der Bewegung. Jedoch interessiert er sich nicht für die Metapher des Fließens, sondern für die fließenden Verkehrsformen. Sein Pier soll den Bewegungsfluß vom Meer aufnehmen und ihn in Richtung Stadt und Flughafen weiterleiten. Verschiedene parallel verlaufende Bewegungszonen bilden die achsiale Gestalt des Piers und unterstreichen zusätzlich die permanente Zirkulation. Die Stirnseite des Piers wird von einer Wand begrenzt, die im Inneren Raum für kulturelle Aktivitäten und an der Fassade für ein Open-air-Kino bietet. Träumte Koolhaas bereits in Lille vom gänzlich neuen Stadtbild, so will er nun in Thessaloniki – auch ohne Masterplan – seinen Teil für die Zukunft beitragen. Zwar steht es keineswegs fest, ob sein Pier jemals gebaut wird, dennoch bleibt er von seiner urbanen Utopie überzeugt: Seinen Pier betrachtet er als „Katalysator für eine neue städtische Physiognomie“.

Katalog zu Thessaloniki (Galerie Aedes East, Berlin), 48 DM