Zittern vor der „gelben Gefahr“

Nicht nur der Westen fürchtet sich vor China. Doch eine Ausnahme gibt es: ausgerechnet Taiwan  ■ Von Georg Blume

Eine Vision, die jetzt die klügsten Köpfe besticht, hatte schon den biederen deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger zu weiser Vorausschau bewegt: „Ich sage nur: China, China, China“, warnte Kiesinger vor allen anderen Mitte der sechziger Jahre. Allerdings konnte Kiesinger die Kulturrevolution nicht voraussehen, und so vergingen weitere dreißig Jahre, bis der derzeitige deutsche Botschafter in Peking, Konrad Seitz, eine sinologische Schrift als „notwendige Lektüre“ empfehlen konnte, die den Titel trägt: „China als Nummer eins – Wie die neue Supermacht ins Zentrum rückt“.

Nicht nur die Deutschen zittern vor dem Riesenreich im Osten: „Angriff des Drachens – der Jahrtausendkrieg“ lautet der Titel eines neuen Buchs zweier britischer Journalisten über den bevorstehenden Krieg zwischen China und dem Westen. In den USA macht derweil die Kriegsfiktion „Der kommende Konflikt mit China“ Furore, und sogar die seriöse Zeitschrift Foreign Affairs warnt in ihrer jüngsten Ausgabe mit roten Titellettern vor der „chinesischen Bedrohung“.

Vermutlich ist das erst der Anfang. Das antichinesische Geschrei, das Aufrufen zur Entwicklungshilfe für China oder ähnlichen Menscheleien mit kommunistischen Diktatoren zuvorkommen will, wird nicht so schnell verstummen. Das hat vor allem zwei Gründe. Erstens: Ein Fünftel aller Menschen sind Chinesen. Das allein ist genug, um allen anderen auf der Welt Angst einzuflößen. Zweitens: Es gibt sie wirklich – die bösen Chinesen, die alles erdenkliche tun, um die Welt um sie herum zu ärgern.

Einer von der Sorte, wie sie die USA fürchten, schimpfte kürzlich auf der Pressekonferenz der in Peking gastierenden amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright über deren Unpünktlichkeit. „Diese Frau soll sich nicht einbilden, daß in China irgendwer zuhört, wenn sie hier spricht“, sagte der unfreundliche Diplomat aus der Nordamerika-Abteilung des chinesischen Außenministeriums. Die Journalisten in Albrights Begleitung rümpften die Nase. Etwas mehr diplomatische Höflichkeit, als ihnen derzeit in China zuteil wird, sind Besucher aus den USA in den meisten Länder gewöhnt. Erst recht verwirrend mag deshalb sein, wenn nun sogar Harvard-Professoren Lektionen aus dem Buch einer Gruppe chinesischer Autoren: „Das China, das Nein sagen kann“, übernehmen.

Viel gewöhnlichere Chinesen lernen den Japanern das Fürchten. Man erkennt sie an billigen Anzügen und großen Plastiktaschen. In unbekannter Zahl – denn die offizielle Statistik ist eine Lüge – bevölkern sie die billigen Hafenviertel von Yokohama und Osaka. Mit Hilfe der Yakuza-Mafia sind die ungebetenen Ausländer mit Fischerbooten nach Japan eingereist. „Gegen die haben wir keine Chance. Es sind zu viele, und sie kämpfen ums Überleben“, ängstigt sich der Volksmund an der Sushi-Bar. Die japanische Polizei verhaftete im vergangenen Jahr 11.949 Ausländer – 40 Prozent davon Chinesen.

Wieder ganz andere Chinesen machen den Indonesiern, Malaysiern und Thais das Leben schwer, weil sie die Wirtschaftsmacht dieser Länder kontrollieren. Allein in Indonesien sind 60 Prozent des privaten Kapitals im Besitz chinesischer Geschäftsleute. Daher kommt es immer wieder zu antichinesischen Aufständen. Doch damit nicht genug. Viele Länder haben heute ein China-Problem: Rußland fürchtet unter dem Druck der Bevölkerungsexplosion in China einen Einmarsch im dünnbesiedelten Sibirien. Vietnam ängstigt sich vor den Marinetruppen der Volksarmee im Konflikt um die Inseln im Südchinesischen Meer. Nicht einmal Europa ist vor chinesischen Anforderungen sicher, wie das Scheitern der EU- Menschenrechtspolitik belegte. In Genf reichte die Angst um lukrative Geschäfte, um einige Länder auf chinesische Linie zu bringen.

Weil alle Angst vor China haben, lohnt es sich, die großen und kleinen Sorgen etwas zu sortieren. Eigentlich gibt es wenig Gründe, warum sich gerade die USA vor China fürchten müssen. Amerikaner sind in China viel beliebter als Japaner und Vietnamesen. Historisch haben die USA nur einmal mit dem Reich der Mitte die Schwerter gekreuzt – im Koreakrieg der 50er Jahre. Der aber ist bei den meisten Chinesen im Vergleich zu den Verbrechen der japanischen Armeen im Zweiten Weltkrieg und dem Krieg mit Vietnam im Jahr 1979 eine längst vergessene Geschichtsepisode. Für die aufstrebenden Privatunternehmer an den Küsten Chinas sind die USA vielmehr ein leuchtendes Beispiel des Fortschritts, zumal Japan in der Rezession viel Anzugskraft eingebüßt hat. Warum also gerade ein Krieg mit den USA, dem wichtigsten Handelspartner Chinas, der zudem militärisch viel stärker ist? Die Antwort kennen derzeit offenbar nur britische Journalisten und US-amerikanische Ostküsten-Intellektuelle.

Etwas schauriger sieht der chinesische Drache aus japanischer Sicht aus: Die Angst vor einer Flüchtlingsbewegung, bei der die kleinen japanischen Archipele hilflos dem Ansturm der Masse Mensch aus China ausgeliefert sind, schlummert in jedem Beamtenkopf des Tokioter Justizministeriums, das in Japan für Ausländerpolitik zuständig ist. So hart werden illegale chinesische Einwanderer heute in Japan behandelt, daß Fernsehaufnahmen der Justizanstalten an Bilder von Zwangsarbeiterlager im Zweiten Weltkrieg erinnern. Indessen möchten vor allem ältere Japaner nicht so weit zurückdenken, da sie wissen, daß ihre Armeen damals vier Millionen chinesische Soldaten und achtzehn Millionen Zivilisten töteten, ohne daß sich eine japanische Regierung bis heute zu eindeutiger Reue bekannt hat.

Sorgen ganz anderer Art haben die Beschäftigten in Toulouse und Hamburg, wo jetzt der Airbus für China produziert wird. Das Dilemma ist groß, denn die reichen Europäer könnten noch viel für das arme China bauen, wenn das Land nicht so gelb, groß und gewaltig wäre. Nicht jeder ist schließlich so furchtlos wie die Männer und Frauen von ABB oder Volkswagen, die in China investieren und ihr Know-how zum Besten geben, ohne an die Gefahren eines „Jahrtausendkriegs“ zu denken.

Doch selbst die Konzerne sehen hilflos zu, wie ihr Hongkong – das gute China – an das neue „Reich des Bösen“ fällt. Gerade weil die ganze Welt in diesen Tagen um die „Perle des Orients“ weint, wird die Angst vor dem „Boom-Land“ China um so größer. Statt sich ein realistisches Bild von einem heterogenen, von sozialen und regionalen Zerwürfnissen bedrohten Land zu machen, richten die Beobachter ihre Blicke auf den Einmarsch der Volksarmee ins prosperierende Hongkong. Dreihundert Millionen Chinesen, die immer noch an der Grenze zur Unterernährung leben müssen, werden zu Statisten in einem weltpolitischen Antagonismus degradiert.

Bleibt Taiwan – abgesehen von der Ausnahme Japan eine in der Region noch vergleichsweise demokratische Insel, die aus Angst vor dem Drachen längst erstarrt sein müßte. Vor Taiwans Küsten beginnen alle Kriegsszenarien zwischen China und dem Westen. Wer also würde der Behauptung widersprechen, kein Land auf der Welt sei gefährdeter durch die chinesische Bedrohung als Taiwan?

Doch ausgerechnet die Taiwaner machen beim Zittern vor der „gelben Gefahr“ nicht mit. Statt für Aufrüstung demonstrieren sie gegen Atomkraft. Sie verschaffen einer Oppositionspartei, die unbesorgt auf Unabhängigkeit vom Festland setzt und dem Konflikt mit Peking nicht aus dem Weg geht, zu anhaltenden Wahlerfolgen. Gleichzeitig investieren sie mehr als jede andere Nation, USA und Japan eingeschlossen, in der Volksrepublik. Und sie schreiben auch keine Kriegsfiktionen fürs Jahr 2000 und danach.

Sollte sich die Gelassenheit der Taiwaner auch in den klugen Köpfen des Westens durchsetzen, dann war Kiesinger vielleicht ein Mann fürs 22. Jahrhundert. Denn die nächste Welle der Angst vor der „gelben Gefahr“ kommt so sicher wie das Amen in der Kirche.