Hilfe für Hongkong

Um demokratische Freiheiten zu erhalten, ist internationale Unterstützung notwendig  ■ Von Otto Graf Lambsdorff

Dreißig Tage sind es noch bis zur Übergabe der Kronkolonie an China. Das Schicksal der sechs Millionen Einwohner Hongkongs bleibt ungewiß. Ist Hongkong auf internationale Unterstützung angewiesen, damit China die im britisch-chinesischen Vertrag gemachten Zusagen einhält?

Die Zeit drängt. Bereits vor Monaten hat die chinesische Regierung angekündigt, den wenigstens teilweise frei gewählten Legislativrat, in dem die Demokratische Partei unter Führung von Martin Lee die stärkste Fraktion stellt, durch ein Scheinparlament zu ersetzen. Das ist ein massiver Eingriff in international anerkannte demokratische Rechte, eine Mißachtung des Willens der Wähler in Hongkong. Mit jedem Tag kann sich Hongkong ein Stück mehr von Freiheit und Demokratie entfernen. Es geht um die Erhaltung der Demokratie in Hongkong, aber nicht weniger um die Unterstützung einer friedlichen Entwicklung zu mehr Demokratie in ganz China.

Immer mehr der 1,2 Milliarden Einwohner der Volksrepublik China selbst erwarten und fordern mehr Diskussions- und Wahlmöglichkeiten. Die Vernunft läßt keine andere Wahl als den Weg zu mehr Demokratie. Auch um den in den vergangenen Jahren gestiegenen Wohlstand vieler Bürger zu sichern. Das ist die Botschaft, die viele Freunde mir während meiner jüngsten Asienreise mit nach Hause gegeben haben. Demokratische Reformen sind im eigenen Interesse der Regierung in Peking. Die Demokraten in Ost- und Südostasien fragen sich jedoch: Wie schnell zieht die Führung in Peking die richtigen Konsequenzen? Entscheidend für die Chancen der Demokratie in Hongkong und ganz China ist, wie es mit der Demokratiebewegung in China weitergeht.

Einer der drei führenden Männer in der chinesischen Führungsspitze hat vor einiger Zeit die Zahl der aktiven Mitglieder der Demokratiebewegung in der Volksrepublik China auf 3.000 geschätzt. Wenn dies stimmt, ist das nicht einmal ein Zehntelpromille der Gesamtbevölkerung, aber ein Schimmer der Hoffnung. Die Regierung in Peking sollte die demokratischen Institutionen in Hongkong unangetastet lassen, wenn die Kronkolonie an die Volksrepublik übergeben wird. Die Studenten und alle Demokraten in Hongkong setzen große Hoffnungen auf Europa und Amerika. In Europa sehen führende Vertreter aus Politik und Wirtschaft in Hongkong ein Modell für die Entwicklung von Menschenrechten, Marktwirtschaft und Demokratie in ganz China. Es liege im eigenen Interesse, dieses Modell zu erhalten.

Warum sehen auch viele Unternehmer in Hongkong ein Modell für die weitere Entwicklung in der Volksrepublik China? Ihre Antwort lautet: Demokratie ist nicht nur gut für Hongkong, sondern auch für die Rechtssicherheit bei Investitionen in China. Investoren, die sich ein Stück vom Kuchen des großen Marktes in China abschneiden wollen, sollten dies bedenken. Renommierten asiatischen Wirtschaftsfachleuten, aber auch vielen Experten hier und in Amerika gibt es zu denken, daß in den vergangenen Monaten die Aktienkurse an den Börsen in Singapur, Kuala Lumpur und Bangkok um 30 Prozent, teilweise noch mehr, gefallen sind. Gibt es bessere Argumente als diese Zahlen für die These der asiatischen Reformer, daß eine verantwortungsvolle, wirtschaftliche Entwicklung in ihren Ländern nur mit mehr Demokratie möglich ist? Die weiteren wirtschaftlichen Perspektiven sähen nach Meinung zahlreicher Kenner günstiger aus, wenn die Führung in Peking den Mut hätte, mehr Demokratie zu wagen.

Die Regierung der Volksrepublik China steht vor gewaltigen Aufgaben. Allein die Zahl der Migranten innerhalb Chinas wird auf 100 Millionen geschätzt. Die Zahlen über den Wirtschaftsboom in Shanghai und den Sonderwirtschaftszonen verdrängen die Schattenseiten der Entwicklung. In Hongkong ist man über diese Schattenseiten gut informiert. Im Interesse der Bevölkerung ganz Chinas ist es deshalb, daß auch nach dem 30. Juni in den Medien Hongkongs über diese Schattenseiten berichtet wird.

Nun gab es bei der jüngsten Tagung der UNO-Menschenrechtskommission in Genf leider keine Resolution zu den Menschenrechtsverletzungen in China. Weder zu den häufigen Verletzungen in Tibet noch zur Verfolgung vieler Demokraten. Immerhin gab es heftige Kontroversen und ein paar Zugeständnisse der Regierung in Peking. Das ist eine Chance.

Immer mehr Regierungen in Afrika, Asien, Lateinamerika sowie in Mittel-, Südost- und Osteuropa gehen dazu über, in Menschenrechtsfragen enger zusammenzuarbeiten. Die zweite Weltmenschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen in Wien im Juni 1993 hat die weltweite Zusammenarbeit für die Menschenrechte zu einem vorrangigen und legitimen Anliegen der internationalen Gemeinschaft erklärt. Die positiven Wirkungen und Ergebnisse engerer Zusammenarbeit werden mittlerweile von immer mehr Regierungen anerkannt und geschätzt. Auch die politische Führung in Peking registriert, daß die Koalition aus demokratischen Regierungen in der UNO wächst. Diese Chance gilt es zu nutzen.

1948 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. An dieser Erklärung hat der damalige Vertreter Chinas in New York konstruktiv mitgewirkt. Die Erklärung ist auch heute noch – knapp 50 Jahre später – ein eindrucksvolles und noch immer geltendes Bekenntnis zur Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte. Hier darf es kein Auseinanderdividieren geben. Weder nach Regionen und Ländern noch nach den Vorstellungen einzelner Regierungen. Das gilt übrigens für viele Regierungen.

Die chinesische Regierung hat in Wien im Juni 1993 wie die Regierungen aller Länder die Schlußdokumente der zweiten Weltmenschenrechtskonferenz mitgetragen. Im nächsten Jahr – fünf Jahre nach der Wiener Konferenz – sollen alle Regierungen der UNO berichten, welche Schritte sie zur Verwirklichung der Konferenzbeschlüsse unternommen haben.

Wir Europäer tun gut daran, unseren Beitrag dazu zu leisten, daß es zu wirklichen Verbesserungen in China kommt. Gerade die Bundesrepublik kann zum Erhalt der Freiheit in Hongkong und zur Erweiterung der politischen Freiräume in China einiges beitragen, nicht durch Belehrung, sondern durch kritische Zusammenarbeit, zum Beispiel bei der Reform der Verfassung.

Ansätze zur Demokratisierung wie in Taiwan und weiteren Ländern Asiens sind ermutigend für die Reformbestrebungen in China. Die Verbesserungen der materiellen Lebensbedingungen haben in China bereits zu größeren Freiheiten geführt. Es bleiben – wenige Tage vor dem achten Jahrestag der blutigen Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens – viele offene Fragen. Die politischen und die ökonomischen Entwicklungen könnten in China turbulenter verlaufen, als man sich das heute vorstellen kann. Wie es in den nächsten 30 Tagen in Hongkong weitergeht, ist ein Indiz für die künftige Entwicklung in China.

Dr. Otto Graf Lambsdorff ist Mitglied des Deutschen Bundestages und Ehrenvorsitzender der FDP