Kanto-Pop ist unpolitisch

Die kantonesische Unterhaltungsmusik fürchtet nicht die Übergabe, sondern Piraten-CDs aus China  ■ Von Benny Lai

Erst vor wenigen Wochen hat Jacky Cheung Hok-yau, Hongkongs und Asiens erfolgreichster Sänger, eine Reihe ausverkaufter Auftritte im Kolosseum von Hongkong abgeschlossen. Mit 43 Vorstellungen stellte er einen neuen Rekord auf. Überhaupt war es das erste Musical, das von einem Sänger aus Hongkong und einem professionellen Produktionsteam entworfen, geschrieben und aufgeführt wurde. Die CD mit Songs aus dem gleichnamigen Musical „Snow, Wolf, Lake“ wurde in Hongkong in mehr als 200.000 Exemplaren abgesetzt, in ganz Asien waren es über eine Million. Jacky ist bei weitem die vorherrschende Persönlichkeit in der Musikszene Hongkongs, seit Anfang der achtziger Jahre der Kanto-Pop den Markt zu beherrschen begann.

Kanto-Pop oder kantonesische Popmusik, benannt nach dem chinesischen Dialekt, der in Hongkong und der benachbarten chinesischen Provinz Guandong gesprochen wird, ist wie andere Popsongs leicht verdaulich. Die Stücke kreisen um Liebe, Zuneigung, Beziehungen und greifen gelegentlich auch soziale Themen auf.

Zusammen mit Jacky haben Alan Tam Wing-lun, Leslie Cheung Kok-wing und Anita Mui Yim-fong tatsächlich eine Transformation des Kanto-Pop-Markts zuwege gebracht. Früher begeisterte sich die Masse der Musikliebhaber Hongkongs für westliche Künstler und deren Musik: Elton John, Billy Joel, Abba, Olivia Newton-John, die Bee Gees, The Carpenters und viele andere waren die Favoriten im Radio, und ihre Platten brachten unter Garantie Geld. Ihre größten Hits sind nach wie vor gut verkäuflich. Der Siegeszug des Kanto-Pop geht vor allem darauf zurück, daß diese lokalen Sänger mehr Nachrichten und Klatsch für das breite Publikum produzierten als westliche Musiker, und dies verstärkte ihren Unterhaltungswert. Im Kanto-Pop gewann das Phänomen der „Idole“ eine besondere Bedeutung und wurde zu einem unverzichtbaren Marketing-Werkzeug der größeren Plattenfirmen wie Polygram, Warner Music, Capital Artists, EMI und Sony. Ihre Strategie lautete, Sänger (keine Musiker oder singende Liedermacher) mit gutem Aussehen, sauberem Image und beträchtlichem Können aufzubauen, um die jüngere Generation zu erreichen, die vermutlich am bereitwilligsten Geld ausgibt. Das hat funktioniert, und in gewissem Ausmaß funktioniert es nach wie vor. Es war nicht ungewöhnlich, daß von einer typischen Kanto-Pop- Platte etwa von Alan Tam oder Leslie Cheung 150.000 Exemplare verkauft werden konnten. Der Verkauf von Titeln unterschiedlcher Qualität war für die Firmen kein Problem.

Solange das „Idol“-Phänomen vorherrschte, verschärfte sich die Konkurrenz um besseren Umsatz, Marktbeherrschung, Radio- und Chartplätze. Die Vertreter der Plattenfirmen begannen, weniger gute Sänger auf den Markt zu bringen, um schnelles Geld zu machen. Schließlich fiel das Gesamtniveau drastisch ab. Die Plattenverkäufe sowohl neuer wie etablierter Sänger frustrierten die gesamte Branche. Die Musikliebhaber wurden beim Einkauf wählerischer, ein Teil von ihnen kehrte zur westlichen Musik zurück. Zugleich wuchs das Interesse an japanischer und taiwanischer Musik, da diese mit höherer Qualität assoziiert wurde. Heute lassen sich CDs von japanischen und taiwanischen Sängern ebenso gut verkaufen wie die von einheimischen Künstlern.

Gleichzeitig wurde die Raubpressung von CDs zu einem ernsten Problem. Sie beeinträchtigt die Verkaufszahlen, wenn auch nicht ganz so stark, wie die Leute in der Branche glauben machen wollen. Sie sprechen von einem Verlust von zehn Millionen Dollar Umsatz aufgrund der Piraten-CDs aus China, die in Hongkong verkauft werden. Tatsache ist, daß der Markt von Songs schlechter Qualität beherrscht wird, und wenn eine Piraten-CD nur ein Viertel des eigentlichen Preises kostet, stehen die Verbraucher vor keiner schweren Entscheidung.

Vor zwei Jahren wurde der Kanto-Pop vor eine weitere Herausforderung gestellt. Das kommerzielle Radio Hongkong, der wichtigste Sender des Territoriums, legte fest, daß auf allen Programmen nur noch neue Songs in der Originalversion gespielt werden dürften. Dies sollte nicht die Zweitfassungen diskriminieren, sondern alle Plattenfirmen ermutigen, Kreativität und Originalität zu fördern. Zur Zeit sind immer noch fast alle neuen Platten und CDs Originalkompositionen. Obwohl die Plattenfirmen und Musikliebhaber nach wie vor nach „Idolen“ suchen, ist diese Tendenz heute rückläufig. Dafür tritt die Qualität der Musik und der Künstler wieder stärker in den Vordergrund.

Nach der Übergabe an China wird es keine größeren Veränderungen geben, da mit politischem Druck auf die Kanto-Pop-Szene nicht zu rechnen ist. Das Fehlen politischen Engagements im Kanto-Pop verweist auf Gleichgültigkeit und Desinteresse. Und falls man dies als Selbstzensur einschätzt – für das Musikgeschäft ist es jedenfalls nicht von Nachteil.

Anders könnte es bei der wachsenden Zahl der Untergrundgruppen aussehen, die jetzt ihre Musik unabhängig auf den Markt bringen. Politische Texte, insbesondere über das Massaker von 1989 auf dem Tienanmen-Platz oder über fehlende politische Freiheiten in China, sind bei den neuen Gruppen häufig. Ob sie sich in Zukunft mit Zensur auseinandersetzen müssen, läßt sich heute noch nicht sagen. Unabhängige Gruppen werden immer eine Marktnische finden. Wenn ihre Musik ein größeres Publikum anzieht, wird sie mit Sicherheit die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich lenken.

In absehbarer Zukunft werden wir es mit einer ausgeglicheneren Mischung von Kanto-Pop, taiwaneschem, japanischem und westlichem Pop zu tun bekommen. Die größere Nachfrage nach guter Musik fördert dabei das Wachstum des Marktes. Der Zukunft des Kanto-Pop kann das nur gut tun.

Benny Lai ist freier Musikjournalist in Hongkong.

Übersetzung aus dem Englischen: M. Büning