■ Verwirrspiel: Will Rußland seine Atomwaffen entschärfen?
: Jelzins große Geste

Boris Jelzin hat es mal wieder geschafft. Nach der Unterzeichnung der Rußland–Nato-Akte in Paris sind die Analytiker weltweit damit befaßt, zu decodieren und zu interpretieren, was er denn meinte: Der Kremlchef hatte angekündigt, die auf die Mitgliedsstaaten der Nato gerichteten Nuklearwaffen sofort demontieren zu lassen. Nicht selten bedürfen Jelzins Äußerungen eines nachträglichen Schliffs, das ist in innenpolitischen Angelegenheiten nicht anders. In der internationalen Arena wird indes jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. In Rußland fallen Wort und Tat oft in eins. Will heißen – es bleibt beim ersten. Die Bekundung der Absicht ist das Maßgebliche. Sie transportiert die Message. Beruhigt, entspannt, beschwichtigt. Die Intention ist das Ziel, eine ganz spezifische Form eines transzendentalen Pragmatismus.

Jelzins gute Absicht soll keineswegs in Abrede gestellt werden. Er dekonstruiert den Diskurs der internationalen Politik und deeskaliert mit den Instrumentarien eines Familienzwistes. Als wäre der Streit nur Ergebnis eines bedauerlichen Mißverständnisses.

Die nuklearen Sprengköpfe können indes gezählt werden. Bereits vor gut drei Jahren hatte sich Rußland verpflichtet, die Zielvorgaben der Raketen auf Europa zu verändern. Der Stichtag ist somit längst verstrichen. Ist das etwa nicht geschehen? Das russische Verteidigungsministerium beschränkte Jelzins Versprechen nämlich auf die „Kurskorrektur“ – von Demontage könne keine Rede sein. Mit den USA hatte Rußland vor längerer Zeit eine ähnliche Abmachung getroffen. Was ist nun eigentlich Sache? Ist Jelzin nicht ganz im Bilde? Haben die Militärs ihm keinen reinen Wein eingeschenkt?

Der Vorstoß, der im Westen verhalten aufgenommen wurde, wirft eine ganze Reihe Fragen auf. Die Atommächte werden es nicht zulassen, daß Kontrolleure der Gegenseite das Nukleararsenal inspizieren. Hinzu kommt noch ein unerfreulicher Umstand. Der Abrüstungsvertrag START-II liegt im russischen Parlament auf Eis, das ihn ratifizieren müßte, bevor irgendwelche maßgeblichen Schritte unternommen werden können. Die von Nationalisten und Kommunisten beherrschte Duma lehnt die Annäherung zwischen Nato und Rußland rundweg ab. Leider ist es auch Jelzin nicht gegeben, die Deputierten vom Gegenteil zu überzeugen. So schrumpft die spektakuläre Pariser Äußerung auf das zusammen, was viele sofort vermuteten: Jelzin wurde von seinen Gefühlen übermannt und wollte der Welt wenigstens symbolisch guten Willen demonstrieren. Klaus-Helge Donath