■ Nachschlag
: Gesänge für den Tempel: Eine Arbeit von Wassiljew im Hebbel Theater

Immer wieder sucht das Theater, angewidert vom Betrieb, nach seinem Erlöser: nach einem, der es vom Makel des bloßen Spiels befreit, der ihm Wahrhaftigkeit einhaucht, der es erhebt zu einer höheren Existenz. Dann geht die Rede von sagenhaften Regisseuren, die irgendwo fern im Osten mit einer Handvoll Getreuer in klosterähnlicher Gemeinschaft hausen und mit unerhörter Askese und Leidenschaft bisher nie Gesehenes auf die Bühnen winziger Kellertheater zaubern. Ende der 80er Jahre galt der Russe Anatoli Wassiljew als eine solche Lichtgestalt. Mit „Cerceau“ von Viktor Slavkin, machte er damals Gastspielfurore, dann mit zwei Pirandello-Inszenierungen. Danach begann er, auch im Westen zu arbeiten, und die Kritik verlor das Interesse. Fremd ist der Fremde eben nur, solange er aus der Fremde kommt.

Jetzt drängt es ihn, weiland Erlöser, selbst nach Erlösung. „Der Kommunismus hat die Tempel der Religion zerstört. Die Perestroika hat das Theater als Tempel zerstört“, postuliert der 55jährige. Was also gilt es wiederzuerrichten? Den Tempel der Religion auf dem Theater offenbar. Zu diesem Zwecke hat sich Anatoli Wassiljew mit dem Ensemble für Altrussische Geistliche Musik „Sirin“ und dem Komponisten W.I. Martynow zusammengetan, um dessen alttestamentarische Chorkomposition „Die Klagelieder Jeremias'“ zur szenischen Uraufführung zu bringen. Die Deutschlandpremiere dieses „Mysteriums“, so der Untertitel, fand am Wochenende im Hebbel Theater statt.

Wassiljew setzt die 15 gleichförmig schwarzgewandeten Chorsänger durchaus behutsam in Szene und findet zum monoton-rituellen Gesang einfache und klare Choreographien, und dennoch: Geistliche Musik, sakrales Gebaren als theatralische Form hat einfach immer etwas Peinliches. Die Ergriffenheit, die sie produziert, ist eine ausgeborgte, sie entsteht nicht mit den Mitteln des Theaters, sondern mit denen des Kultus. Der aber hat seinen eigenen Ort. So wird das Religiöse auf der Bühne auch bei Wassiljew eine letzlich folkloristische Veranstaltung, sein Pathos eine Emotion zweiter Hand. Die zahlreich vertretenen Exilrussen konnten sie immerhin auf ihre Weise goutieren. Dem deutschen Publikum aber halfen weder die ernsten Mienen noch die Bibeln, die es ins Theater mitgebracht hatte. Michael Mans