Sattelschlepper statt Stegreif

■ Das Straßentheater hat sich zu einem eigenen Markt entwickelt. Ein Bericht vom internationalen Tête-à-tête in Rastatt, Deutschlands größtem Straßentheaterfestival

In Rastatt gibt es einen langgestreckten Marktplatz, der das Jahr über verlassen vor sich hin träumt. Abends geht man dort was trinken oder läuft zum Rhein und setzt ins Elsaß über. 1849 war Rastatt Mittelpunkt der badischen Revolution, nächstes Jahr wird mit einem „Freiheitsmuseum“ an deren 150. Jahrestag erinnert. In der Regel macht die Kleinstadt mit 40.000 Einwohnern im Dunstkreis von Karlsruhe und Baden-Baden aber nur selten von sich reden. Richtig, Mercedes produziert vor Ort und startete hier kürzlich die von La Fura dels Baus gestützte Präsentationstour seiner neuen A-Klasse. Ansonsten gibt es in Rastatt jedoch nicht einmal ein Landestheater.

Es konnte also nicht ausbleiben, daß irgendwann doch ein Kultursignal in die Republik gesendet werden mußte und vor sechs Jahren das Tête-à-tête ins Leben gerufen wurde, Deutschlands größtes Straßentheaterfestival. Seither wird der verträumte Marktplatz alle zwei Jahre Ende Mai zur Kulturmeile, und als am letzten Donnerstag ein erster Höhepunkt erreicht war, quoll die Örtlichkeit über. An mehreren Spielorten gab es in schnellem Wechsel alle Straßentheatervarianten, von den üblichen Chaos-Gauklern, die die Zuschauer in inszenierte Spiele locken, bis hin zu Trapezkünstlern, akrobatischer Tanzperformance und Puppentheater.

Vom Agitprop der 70er Jahre mit emanzipatorischem Anspruch und dem Traum, die bürgerliche Hochkultur aus den Angeln zu heben, ist heute so gut wie nichts mehr geblieben. Die Zeit ist nicht danach und die Szene derart ausdifferenziert, daß als kleinster gemeinsamer Nenner nur übrig geblieben ist, daß man anders als im Stadttheater direkt an den Zuschauer ran will. Alle Varianten des Straßentheaters leben davon, mit dem Zuschauer und seinen Erwartungshaltungen zu spielen. Ob das heute tatsächlich noch zu irritieren vermag, ist allerdings die Frage. Oder was passiert, wenn Christoph Engels mit seinen roten Haaren nach der Kettensäge greift und sich den Zuschauern nähert? Ist das mehr als die Straßenvariante des üblichen Fernsehthrills?

Charlie Bick, seit 15 Jahren im Geschäft und Künstlerischer Leiter des Tête-à-tête, das er mit einem Budget von 350.000 Mark betreibt, reklamiert für sich, daß er nach „jungen, schrägen Vögeln sucht“, die nicht im Mainstream schwimmen, keine „glatten Geschichten“ erzählen und „kommunikative Ereignisse“ schaffen. Wirklich interessant sind dabei vor allem Versuche, die nicht nur Reflexe provozieren. Zic Zazou aus Frankreich etwa, zehn perfekte Musiker mit schauspielerischen Qualitäten, die durch die Straße ziehen und mehr vor dem Publikum fliehen, als daß sie es suchen. Ihre Stopps, um einzelne Zuschauer mit „Satisfaction“ auf acht Blockflöten zu belästigen, brechen sie nach ein paar Takten ab. An ihrem Hauptspielort angelangt, folgt dann eine Tour de Force durch alle musikalischen Gattungen.

Daß die Straßenkünstler mit solchen Formen ins etablierte Theater streben oder es zumindest beeinflussen wollen, gilt für Charlie Blick nicht mehr. Vielmehr habe sich die Straßenkunst neben der Subventionskultur inzwischen zu einem zweiten, gesamteuropäischen Markt entwickelt. Deutschland glänze zwar noch als Entwicklungsland, Polen aber habe eine sehr rege Szene, und in Frankreich herrschten inzwischen geradezu paradiesische Zustände.

Truppen wie die 1982 in Angers gegründete Compagnie Jo Bithume beispielsweise können inzwischen auch ohne die üblichen Nebenjobs im Winter überleben. Die Compagnie, die ihre Arbeiten bis nach Brasilien exportiert, hat zusammen mit dem Rastatter Festival „Hello Mister Jo“ produziert. Die theatralische Luftshow fand am letzten Abend des Tête- à-tête ausgehend von vier Türmen über den Köpfen der Zuschauer statt – eine Art von Straßentheater, deren Produktionskosten locker die 100.000-Mark-Grenze überschreitet.

Einfach irgendwo aus dem Stegreif sein Programm abzuspulen geht da schon längst nicht mehr, das Theater Titanick zum Beispiel, eine Münster–Leipzig-Connection, dürfte ihre neue Produktion mit dem Sattelschlepper angeliefert haben. „Troja“ nennen sie ihr Sandkastenspiel, mit dem sie den Rastatter Schloßhof erbeben ließen. Bei Titanick muß alles voluminös sein, martialische Kämpfer drehen an irgendwelchen Mechanismen, damit eine ausufernde Hebebühne mit Auslegern, Kraninstallationen und gitterähnlichen Anbauten sich hebt, senkt und am Ende in einem flammenden Inferno zusammenkracht.

Ein Bildertheater der plumpen Art, in dem futuristische Panzergefährte am Zuschauerrund vorbeirasen und beweisen wollen, daß sich die Menschheit seit Troja nur immer auf den Schädel haut. Viel Lärm, der zuviel gekostet hat. Zumindest in einem Punkt also ist es inzwischen zu einer Art Verschwisterung von etabliertem Kulturbetrieb und Straßenkunst gekommen. Hier wie dort wird Geld in den Sand gesetzt. Jürgen Berger