■ Waigels Griff nach den Goldreserven ist kein Grund, dem Bundesbankpräsidenten Tietmeyer den Rücken zu stärken
: Harte Kriterien, weiche Politik

Das europäische Haus des Theo Waigel ist aus Glas gebaut, errichtet auf dem Fundament der Mark, gehalten von dem gußeisernen Gestänge Maastrichter Kriterien und dem Vertrauen in die monetäre Stabilität. Theo Waigel hat in seinem Haus mit Goldklumpen geschmissen, jetzt steht er vor einem Scherbenhaufen. Das Vertrauen ist zerbrochen.

Nun richten sich die Erwartungen an den Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer, den eigentlichen Architekten in Stabilitätsfrage. Er soll nun retten, was noch zu retten ist.

Wenn sich Waigel durchsetzt, wird durch die deutsche Praxis abgesegnet, was als kreative Buchführung bereits in die Haushalte der übrigen EU-Staaten Einzug gehalten hat. Ob nun der deutsche Finanzminister sich zum Haushaltsausgleich per Sondergesetz bei der Bundesbank bedient, Frankreich den 97er Etat via Pensionsfonds zuungunsten späterer Jahre entlastet oder Italien gar seine Goldbestände über Marktwert veranschlagt – all das hat mit „Haushaltsdisziplin“, deren Einhaltung durch die Maastricht-Kriterien überprüft werden soll, nichts zu tun. Das wissen zwar alle Beteiligten, doch wo kein Kläger, da ist bekanntlich auch kein Gericht. Und Deutschland war der letzte Sünder, der sich zum Kläger aufspielen wollte und – bis vor einigen Monaten – auch konnte.

Wenn dagegen Theo Waigel klein beigeben muß, dann führt dies letztlich zu einer Erhöhung der Nettoneuverschuldung. Damit wäre zwar nicht dem Referenzwert 3,0 für das Verhältnis von Defizit zum Bruttoinlandsprodukt, wohl aber der Haushaltsklarheit Rechnung getragen.

Es ist eine Ironie der europäischen Einigungsgeschichte, daß ausgerechnet der Oberlehrer in Sachen Stabilität plötzlich das kleine Einmaleins des Monetarismus vergessen hat. Aber was läßt Waigel so maßlos wider die Lehrsätze der Geldpolitik verstoßen? Was treibt ihn, die Bundesbank für eigene Zwecke zu plündern und sich mit der im Zentralbankrat versammelten Kompetenz anzulegen? Und vor allem, wie kann er nur so leichtfertig mit einer Änderung des Bundesbankgesetzes zur Disposition stellen, was als Modell für Europa gedacht war? Es ist kein einziges seiner früheren europapolitischen Kriterien in Waigels Tun erkennbar. Der Finazminister ist wortbrüchig geworden. Er kann seine eigenen Vorgaben nicht mehr einhalten. Die pure Not läßt ihn in die Trickkiste greifen. Er weiß sich keinen anderen Rat, denn das Haushaltsloch ist größer als geplant, und Steuererhöhungen würden einen Bruch der Koalition bedeuten.

1982 entwarf Hans Tietmeyer das sogenannte Lambsdorff-Papier über den wirtschaftspolitischen Kurs der sozialliberalen Koalition. Damit wurde die Ära Schmidt beendet und die Wende eingeläutet. Nun spitzt Tietmeyer die Kontroverse mit der Regierung um die Goldreserven zu, und die Opposition sieht bereits gute Gründe, wenigstens den Rücktritt des Finanzministers zu fordern.

Doch sind das auch gute Gründe, dem Bundesbankpräsidenten zur Seite zu stehen? Tietmeyer hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß das Geld vor der Politik rangiert. Die Europäische Union bedeutet ihm nur einen Fortschritt, wenn sie „dauerhafte monetäre Stabilität produziert“, wenn die politischen Konsequenzen von den wichtigsten Akteuren akzeptiert werden. Stabilität rangiert für ihn vor dem Zeitplan. Das gab schon im November letzten Jahres den ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt zu der Mutmaßung Anlaß, „daß es Ihnen unter den heutigen Umständen lieber wäre, die gemeinsame Eurowährung käme nicht zustande“. Die Mutmaßung ist berechtigt, auch wenn sie wieder einmal dementiert wird.

In der Tat, Tietmeyer ist kein Europapolitiker. Er ist der „Hohepriester der D-Mark“, wie ihn Le Monde tituliert hat. Entweder ein harter Euro oder lieber gar kein Euro, so heißt sein Glaubenssatz. Deregulierung, Steuersenkung und Reform der sozialen Sicherungssysteme heißen seine Exerzitien.

Ein „wohldurchdachtes Delirium“ nannte der prominente französische Soziologe Pierre Bourdieu Tietmeyers rationalisierte Mythologie der Geldwertstabilität und setzte dieser die Aufklärung durch Tatsachen entgegen: Abwertungsspirale, Lohndumping, Abbau sozialer Errungenschaften. Dieses Lamento hat bereits Eingang in die oppositionelle Rethorik gefunden.

Allein, so schlüssig die Argumente Bourdieus und der anderen Skeptiker sein mögen, so können sie eines nicht entkräften: Die Kriterien der Währungsunion sind zwar monetaristische, aber sie sind gemeinsame. Ihnen stehen zwar allseits geteilte Bedenken entgegen, aber keine gemeinsame Politik. Wenn, wie Joscha Schmierer schreibt, die Unabhängigkeit der europäischen Zentralbank unabdingbare Voraussetzung dafür ist, unter Bedingungen der Papierwährung die politische Willkür der Exekutive zu beschränken, so ist dies zwar kein ehernes Gesetz, es verweist aber auf die Schwäche alternativer Strategien. Die Idee Bundesbank ist das Modell der Delegation von Regierungsmacht an eine Bürokratie. Es steht für die Anonymisierung und Entdemokratisierung zentraler Entscheidungsbefugnisse. Dieses Modell nannte der Schriftgelehrte der D-Mark, Hans D. Barbier, fast so etwas wie einen deutschen Sonderweg im System der Gewaltenteilung. Nicht von ungefähr stößt sich daran vor allem die demokratische Tradition Frankreichs. Doch wohin, wenn dieser Sonderweg nicht mehr beschritten werden soll? Welchen Pfad soll die Europäische Union dann wählen? So emphatisch das Primat des Politischen gegenüber dem Monetären gefordert wird, so ungleich schwieriger läßt es sich realisieren.

Die monetaristische Religion Tietmeyers, die Bourdieu beklagt, mißt zumindest alle beteiligten Staaten an der gleichen Elle der Stabilitätskriterien. Jede neu zu definierende Regelung bedarf danach eines neuen politischen Kompromisses. Der ist allerdings erforderlich, will sich Europa hier und jetzt der Union stellen. Bislang mußten harte Kriterien erfüllt werden, nun müßte sich ein Wille bilden, gefiltert aus den disparaten Positionen der beteiligten Nationen. Auch in Frankreich wird nach der Wahl keine so harte Linie mehr verfolgt werden. Und es dürfte ein Vorteil sein, daß ein solcher Kompromiß aus der Position der deutschen Schwäche gefunden werden muß. Der von Helmut Schmidt beklagte „verkrampfte Einspar-Aktionismus“ fände damit ein Ende. Dieter Rulff