Kanadas Regionalparteien auf dem Vormarsch

■ Die liberale Regierung wird die heutigen Wahlen wohl gewinnen. Sie hat keine starken überregionalen Gegner – um den zweiten Platz kämpfen Provinzpolitiker

Washington (taz) – Als Kanadas Premierminister Jean Chrétien am 27.April Parlamentswahlen für den 2. Juni ausschrieb, trieben ihn die gleichen Gründe an wie Jacques Chirac: Er wollte günstige Umfrageergebnisses in ein solides Mandat ummünzen. Aber es ist unwahrscheinlich, daß dem Chef der kanadischen Liberalen das gleiche Schicksal wie dem französischen Präsidenten droht, nämlich der Verlust der Mehrheit.

Die Frage der nationalen Einheit des zweitgrößten Flächenstaates der Welt, die den Liberalen immer Schwierigkeiten macht, ist dieses Jahr nämlich nicht das Hauptproblem. Es geht vielmehr um die hohe Arbeitslosigkeit und die Zukunft des Sozialstaats. Nach Einschätzung der kanadischen Soziologin Jane Jenson hat Kanada vom US-amerikanischen und europäischen Sozialsystem jeweils die Kehrseiten abbekommen: Wie in den USA hat Kanada Einschnitte in sein soziales Netz hinnehmen müssen, aber trotz Deregulierung des Arbeitsmarktes und Haushaltssanierung hat es eine „europäische“ Arbeitslosenrate von etwa zehn Prozent. Die Liberalen, die Kanada in den siebziger Jahren mit dem Aufbau eines Wohlfahrtsstaats zum Schweden Amerikas machen wollten, haben seit ihrem Sieg über die Konservativen 1994 Kanadas Sozialsystem gekürzt und seine Verwaltung an die Provinzen delegiert. Jetzt, wo der Staatshaushalt ausgeglichen ist, verspricht Chrétien, einige Einschnitte wieder rückgängig zu machen.

Chrétien hatte 1994 zwölf Jahre konservative Regierungszeit beendet. Die Progessive Conservatives behielten damals zur Bedeutungslosigkeit gerade mal zwei Sitze. Sie sind die einzigen, die diesmal nichts zu verlieren haben – und machen daher die angeblich bedrohte nationale Einheit zum Thema. Die von ihnen dafür verantwortlich gemachten Parteien werden aber die Rolle der größten Oppositionskraft unter sich ausmachen. Bisher war das der frankophone Bloc Québecois, der für die Loslösung der Ostprovinz Québec von Kanada einsetzt.

Die Unabhängigkeitsbewegung der Frankokanadier hat einen anglophonen Backlash in Form der in Westkanada verankerten Reform Party unter Preston Manning herausgefordert, die viel Ähnlichkeit mit den US-Republikanern hat. Manning tritt für Steuersenkungen, den Abbau von Befugnissen der Bundesregierung und freies Waffentragen ein. Kritiker werfen der Reformpartei vor, sich durch Attacken auf die Québecois zu profilieren und die Einheit Kanadas aufs Spiel zu setzen.

Anders als in den USA hat das Eintreten für Haushaltskürzungen und Zurückdrängen der Zentralmacht in Kanada nichts mit Staats- oder Regierungsfeindlichkeit zu tun. Gerade die Dezentralisierung des teuren Sozialsystems hatte den Sinn, den von Québec in Gang gesetzten zentrifugalen Kräften entgegenzukommen. Abspaltungsgelüste sollten im gleichen Maße welken, wie die Bundesregierung an Bedeutung verlor. Das Ergebnis dieser Wahl aber wird nun aber wahrscheinlich eine Stärkung der partikularen Tendenzen sein – und zwar gerade dann, wenn der Bloc Québecois Stimmen verliert. Dann geht nämlich die Rolle der Hauptopposition an die Reformpartei über, und das wird zu einer weiteren Polarisierung der Regionen führen. Peter Tautfest