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: Der zweite Ostwind von Westen

Auf der letzten SPD-Betriebsräteversammlung ging es um eine Bilanz des noch von Wirtschaftssenator Norbert Meisner durchgesetzten „Industrieflächen- Sicherungsprogramms“ (BIP 2000), ohne das z.B. Krupp seinen Tempelhofer Stahlbaubetrieb 1993 schnell in eine schnöde Spekulationsimmobilie verwandelt hätte. Trotz einer Reduzierung der einst 340.000 Arbeitsplätze in Berlin auf nunmehr 125.000 konnten die wesentlichen Industrieflächenkonzentrationen (Marienfelde, Marzahn, Siemensstadt-Spandau und Oberschöneweide) gehalten werden. Drum herum gibt es über 270 Forschungseinrichtungen und zugleich Wünsche des Bezirkswohnungsbaus.

Die betriebsversammelten Referenten aus Politik und Verwaltung waren sich einig, die Industrie- und Bevölkerungsentwicklung zu optimistisch eingeschätzt zu haben. Jetzt sahen sie den Handlungsbedarf vor allem beim Infrastrukturausbau: Der Flughafen, die Brücken in Köpenick sowie die Tangentialverbindungen Süd–Ost und Nord müßten schleunigst her. Wenn jedoch, wie gesagt wurde, das Bruttoinlandsprodukt nur gehalten werden kann, wenn die Arbeitsplatzprognose es quasi hergibt, dann gilt Entsprechendes auch für den Verkehrsdruck, den die Tiefbauplanung zur Umsetzung braucht. Die Prognosen für das „Drehkreuz nach Osteuropa“ klingen jedoch eher pessimistisch: Immer mehr Firmen holen ihre Produktionsverlagerungen aus Osteuropa zurück — sofern sie für den hiesigen Markt produzieren. Man habe die Probleme dort unterschätzt und hier würden die Lohn- und Zulieferungskosten sinken.

Zudem stagnieren die Importe: Zum einen fehlt es dafür an Devisen, und zum anderen greifen auch in Osteuropa langsam die „Kauft-einheimische Produkte!“-Kampagnen — zumal wenn sie mit verbesserten Waren und Kampagnen einhergehen (in Polen z.B. mit der roten Welle „jetzt polnisch“) und mit höheren Einfuhrzöllen verbunden sind. Schon haben die Deutsche Seereederei und eine weitere Linie ihre regelmäßigen Frachtdienste nach St. Petersburg eingestellt. Gleiches gilt für die täglichen Rußland- Flüge der Deutschen BA: gestrichen. Die Aeroflot reduzierte ihre 3- bis 5mal täglichen Berlin– Moskau-Flüge auf einen, und auch die Lufthansa-Auskunft spricht von weniger Flügen als noch 1996. Die gelegentlich im Moskauer ZDF-Büro arbeitende Cornelia Köster meint: „Die Wege nach Osten sind enorm eng geworden!“ Sogar die Züge würden reduziert. Dies hängt mit der deutschen Visa-Verschärfung zusammen: Neuerdings muß man als Gastgeber eines Russen zur für ihn haftenden Einladung sogar eine Gehaltsbescheinigung beibringen. GUSland konterte mit einer 80-DM-Einladungsgebühr beim Außenministerium. Die GUS-Berichterstattung hat sich derart auf „Frauen-, Drogen- und Waffenschmuggel“ eingeschossen, daß deutsche Erpresserbanden immer häufiger als „Russen-Mafia“ agieren.

Diese deprimierende Stagnationalisierung gilt jedoch nur für den intellektuellen und finanziellen „Mittelstand“. Dem Kanzler gelang es, bei den wirtschaftsberatenden „Jelzin-Boys“ einige Jungdeutsche einzuschleusen. Diese „trojanischen Pferdchen“, wie sie in Moskau genannt werden, lassen das deutsche Großkapital natürlich nicht verkommen. Allein für „Privatisierungen“ im Oblast Moskau stehen der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit im Auftrag des Bundesfinanzministeriums bis 1988 4,7 Millionen Mark zur Verfügung. Weitere Mittel akquiriert die aus der Treuhand-Anstalt hervorgegangene Treuhand- Osteuropa-Beratung (TOB) — für die Von-oben-Privatisierung; im Russischen heißt das „Prichwatisierung“, also: Raub.

Von unten ist man aber auch nicht ganz untätig: Zum einen gibt es jetzt in Potsdam eine unsinngerweise „Ostwind“ genannte Reiseagentur. Die verschickt Alternative von West- nach Osteuropa (0331/612461); zum anderen entwickelte sich Polen — nach den USA und Frankreich — inzwischen zum drittbeliebtesten Auswanderungsland. 1995 zogen bereits 6.300 Deutsche nach dort um. Helmut Höge

wird fortgesetzt