Käsebrötchen und Prognosen

■ Beim Wahlabend in der Jüdischen Gemeinde harrten viele Beobachter aus. Den befürchteten Umschwung zu den Extremen bekamen sie am Montag nicht zu sehen

Der Auszählungsmarathon läuft seit Stunden, doch die Wahlhelferin mit der strengen Lesebrille bleibt korrekt – auch ein Doktortitel darf nicht fehlen, wenn sie mit wichtiger Stimme die angekreuzten Kandidatennamen verliest. Auf dem Auswertungsbogen entsteht aus Namen und Titeln eine simple Strichesystematik, die an diesem Abend immer wieder neugierige Blicke auf sich zieht. Die Jüdische Gemeinde wählt.

8.787 Wahlberechtigte hatten am Sonntag die Möglichkeit, 21 Mitglieder des Gemeindeparlaments zu bestimmen. Das Ergebnis wurde mit Spannung erwartet. Schließlich wählten die Gemeindemitglieder erstmals nicht nach Fraktionen, sondern nach Personen. In der letzten Zeit hatten soziale und kulturelle Spannungen zwischen den alteingesessenen Berliner Juden und den Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion die Gemeindearbeit belastet.

Sonntag abend gegen 21 Uhr. Die einen gucken nur kurz vorbei. Andere harren stundenlang aus im Wahlzentrum in der Fasanenstraße. Sie ziehen von der einen Auszählungsgruppe zur anderen, kurzfristig gestärkt durch Käsebrötchen und Gemüseeintopf. Zu zweit, zu dritt stehen sie zusammen, verteilt in dem weiträumigen Gemeindezentrum: Wähler, Kandidaten und Außenstehende diskutieren – über die „erschreckend geringe“ Wahlbeteiligung (41 Prozent), die Kandidaten und die Zukunft der Gemeinde.

„Ich hoffe, daß eine repräsentative Konstellation zusammenkommt“, meint die 22jährige Nirit Meron. Ihr Freund zählt zu den jüngeren Kandidaten. Sie informiert ihn, der an diesem spannenden Abend für eine Klausur pauken muß, per Handy über den Stand der Auszählung. „Kompetent sollte die neue Versammlung sein“, fügt die Studentin hinzu, „um die Probleme der Gemeinde zu lösen.“

Das Wahlverfahren für den Gemeindevorsitzenden in zwei Wochen könnte sich in diesem Jahr schwierig gestalten. Der frühere Rabbiner Stein, auch er aufmerksamer und ausdauernder Wahlbeobachter, ist skeptisch, daß die Gremienarbeit „ohne Fraktionsdisziplin“ funktionieren wird. „Ein Mehrparteiensystem wäre besser gewesen als die Personenwahl.“

Die Kandidatin Norma Drimmer („Das Team“) ist da optimistischer: Der taz sagte sie, nachdem das vorläufige Wahlergebnis feststand: „Es hat sich gezeigt, daß die Wähler, insbesondere die russischen Zuwanderer, sehr verantwortungsbewußt gewählt und sich nicht für die Kandidaten mit extremen Vorstellungen entschieden haben.“ Annette Kanis

siehe Bericht Seite 5