"Kinder brauchen offene Räume"

■ Medien verzehren Zeit. Gespräch mit Oskar Negt über Kinderöffentlichkeit und die Notwendigkeit einer Bildungsreform. In seinem neuen Buch "Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche" erinnert er an das P

taz: In Ihrem neuen Buch „Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche“ schreiben Sie von der Dringlichkeit einer umfassenden Bildungsreform. Sind Sie ein Illusionist, Herr Negt?

Oskar Negt: Was ich schreibe, mag unzeitgemäß klingen. Aber ich habe sehr viele Lehrer kennengelernt, die nicht länger bereit sind, sich in einem depressiven Zirkel einzurichten. Wenn das Schulsystem nicht in hochkarätige Privatschulen, Nachhilfeinstitutionen und eine Restschule zerfallen soll, muß in der Schule etwas verändert werden, was nicht unbedingt mit der Erweiterung von Stellen verknüpft ist.

Was verstehen Sie unter einem depressiven Zirkel?

Es gibt verschiedene gesellschaftliche Krisenherde. Die Arbeitsgesellschaft ist einem rasanten Wandel unterworfen, Wertestrukturen verändern sich, und es gibt eine Krise zwischen Kapital und Staat. Die Menschen sind sehr unterschiedlich von dieser Erosionskrise betroffen. Da kann es passieren, daß sich Handlungsmöglichkeiten neutralisieren. Wenn man ein Loch stopft, wird ein anderes aufgerissen. Mit einem depressiven Zirkel meine ich ein solches Karussell der Entmutigung. Man hat plötzlich sehr schnell das Gefühl, daß sich nichts wirklich ändert. In diesem Zirkel richtet man sich irgendwann ein. Es gibt Schulkollegien, in denen Lehrer mit Ideen und neuen Energien als störend empfunden werden.

Sie plädieren ausdrücklich für die Herstellung einer Kinderöffentlichkeit. Was verstehen Sie darunter?

Ein wichtiger Punkt des Buches behandelt die Veränderung der Lern- und Erziehungsorte. Dazu gehört auch das soziale Umfeld. Wir haben es mit einer Fragmentierung der alten Familiensozialisation zu tun. Die Scheidungsrate nimmt zu, die Zahl der Alleinerziehenden wird größer, jedes siebte Kind wächst heute unter Sozialhilfebedingungen auf. Ich versuche nachzuweisen, daß bestimmte Funktionen der alten Familie für die Identitätsbildung zentral sind, zum Beispiel die Herstellung von Verläßlichkeit oder die Ausbildung von sicheren Raum- und Zeitstrukturen. Wo lernt ein Kind noch teilen, wenn es in einer Ein- Kind-Familie von einem einzigen Erwachsenen okkupiert ist? Was Kindern nicht mehr geboten wird und was in Gestalt der Medien als Ersatz erscheint, muß in eine Kinder- und Jugendöffentlichkeit, in eine Erweiterung der öffentlichen Räume überführt werden. In einer privatisierten Gesellschaft, wo jeder Quadratmeter Boden kapitalisiert ist, schrumpfen die öffentlichen Lern- und Erziehungsräume. Diese Räume müssen von den Erwachsenen geschaffen und wiederhergestellt werden.

Heißt das: Zurück zur Abenteuerspielplatzpädagogik?

Mit Alexander Kluge habe ich in „Öffentlichkeit und Erfahrung“ die Kinderöffentlichkeit aufgegriffen und entwickelt. Die öffentlichen Erfahrungsräume der Kinder schrumpfen in dem Maße, wie Raum und Zeit kapitalisiert und ökonomisiert werden. Das Durchdringen der kapitalisierten Welt schränkt die lebendigen Erfahrungsräume der Kinder ein. Wenn das gekoppelt ist mit der Einschränkung der intimen Räume in den Familien, dann geht ein wesentlicher Teil der Grundlagenbildung für gesellschaftliche Fähigkeiten verloren. Ich versuche, die Bedingungen zu formulieren, unter denen soziale und kommunikative Kompetenzen der Kinder erzeugt werden. Dafür ist nach wie vor auch der unzensierte, unreglementierte öffentliche Raum erforderlich. Wenn der nicht von den Erwachsenen vorgesehen ist, dann schaffen sich die Kinder ihre eigenen Räume ohnehin, aber das birgt die Gefahr krimineller Strukturen.

Sie haben seinerzeit mit Alexander Kluge einen Begriff von Gegenöffentlichkeit entwickelt, der sehr schnell und im emphatischen Sinne als Handlungsanweisung aufgefaßt wurde. Der Begriff implizierte ja so etwas wie das ganz andere der Öffentlichkeit, die es herzustellen gelte. Jetzt sagen Sie, daß Sie an den Medien weniger interessiert, was sie bewegen, als das, was sie blockieren. Sind Sie den Medien gegenüber skeptischer geworden?

Was mich insbesondere am Fernsehen besorgt, ist der Zeitverzehr des Mediums. Ich fürchte überhaupt nicht, daß Kinder in einer bestimmten Richtung durch das Fernsehen disponiert werden könnten. Ein spielerischer Umgang mit dem Gesehenen führt auch zur Ausbildung von Distanz und Kritik. Eine Gefahr sehe ich vielmehr in dem hohen Zeitverbrauch, den die Medien erzwingen. Deshalb bin ich auch gegen eine bedingungslose Ausstattung der Schulen mit Computern und Internet-Anschlüssen. Wenn wir die Schulen nicht vernetzen, hat kürzlich Peter Glotz gesagt, verlieren wir den Anschluß an den Weltmarkt. Das sehe ich nicht so. Die Frage der primären Kommunikation im Verhältnis zur medialen Kommunikation ist der Hauptpunkt meiner Medienkritik. In dem Maße, wie die primären Kommunikationsverhältnisse der Kinder aufgebaut werden, verliert das Medium an Gewicht. Das Medium hat für Kinder immer stärker auch eine kompensatorische Funktion, es hindert sie daran, sich eigene Erfahrungsräume zu verschaffen.

Sind Sie da nicht ein bißchen kulturpessimistisch? Können die Kinder nicht auch im Umgang mit den Medien wieder neue Erfahrungszusammenhänge erschließen?

Ja, daran habe ich keinen Zweifel, allerdings unter der Bedingung, daß die primäre Erfahrungserweiterung erfolgt. Die Frage ist, in welcher Weise die Kinder ausgestattet sind, Informationen zu verarbeiten. Das ist aber ein vormedialer Vorgang. Die Ausbildung von Erfahrungsfähigkeit liegt primär vor den Medien, also in den ersten zwei Jahren der Kindheit. In dieser Zeit, so Piaget, entwickelt sich die emotionale, soziale und kognitive Kompetenz. Wenn dieser Erfahrungsraum wahrgenommen werden kann, kann die mediale Welt, wenn sie Medium bleibt, eine Erweiterung sein.

Sie erinnern in Ihrem Buch an das brachliegende, vergessene, abgebrochene Potential der Alternativpädagogik, die man, zumindest im öffentlichen Diskurs, längst für erledigt gehalten hatte.

Um zukunftsfähig zu sein, darf man sich nicht das eigene Bewußtsein von Geschichte enteignen lassen. In diesem Zusammenhang geht es mir um eine Wiederaneignung der großen Welt der Alternativschulprojekte von Waldorf über Freinet bis Montessori. Wir müssen die Alternativpädagogik nicht neu erfinden, sondern können mit Vorhandenem experimentieren.

Die Alternativpädagogik war ja in den 70er und 80er Jahren als pädagogische Leitidee erfolgreich. Ist daraus inzwischen nicht ein beliebiger Wildwuchs entstanden, der sehr viel mit der von Ihnen angesprochenen Fragmentierung zu tun hat? Die Alternativpädagogik als ein Supermarkt der Ideen für fehlende Orientierungen?

Der Nachteil der vielen Alternativprojekte war, daß sie sich nicht bewußt auf die Reform des bestehenden Systems gerichtet haben. Es wurden vielmehr isolierte Existenzformen entwickelt, die die Berührungsängste mit dem bestehenden Bildungssystem eher verstärkt haben. Es gab Ausnahmen wie Hartmut von Hentigs Projekt der Laborschule in Bielefeld. In bezug auf unsere Glockseeschule haben wir immer gesagt: Die Alternativschulen sind keine Pflanzstätten des ganz anderen. Wir haben es nicht mit ganz anderen Kindern und auch nicht mit ganz anderen Lehrern zu tun.

Einige Alternativprojekte haben in jüngster Vergangenheit mehr durch Skandale als durch ihren Ideenreichtum auf sich aufmerksam gemacht. So hat man der Tvind-Schule in Dänemark vorgeworfen, daß Erzieher sich persönlich bereichert haben. Aus Waldorf-Schulen hat man von zweifelhaften Strafmethoden gehört. Sind das Zerfallserscheinungen?

Ich gehe davon aus, daß die Grundidee richtig war. Am Beispiel von Tvind ausgedrückt: In einer Welt des Tourismus ist ein Lernen auf Reisen sinnvoll. Die ersten Projekte von Tvind waren phantastisch. Aber der Glaube, es könnte aus sich heraus eine institutionelle Struktur entstehen, die sich auf Dauer alternativ und getrennt von den bestehenden Mechanismen hält, war fatal. Die fehlende Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Realität ist der Tod aller dieser Institutionen. A.S. Neill war beispielsweise der Auffassung, die Eltern verwirren die Kinder. Die Formen alternativer Isolierung sind chancenlos. Das gilt auch für Arbeitslosenprojekte, die nur Arbeitslosigkeit pflegen. Die pädagogischen Grundideen halte ich jedoch für aufbewahrungswürdig. Die Grundidee ist Erweiterung der Erfahrungsfähigkeit. Was allerdings herauskam, war oft die Dogmatisierung des Gegensatzes zur bestehenden Gesellschaft. Interview: Harry Nutt