Fegefeuer der Heiterkeiten

■ Disco und Diskurs: Ein ganzes Wochenende tagte - ach was: nachtete der Kongreß "Jugendmusikfestspiele 97 - Join the Club" in der Berliner Volksbühne

Überlebensgroß wirft der Projektor das Bild eines Mannes namens Captain Space Sex auf die Leinwand hinter der großen Bühne. Der Captain ist ganz allein da draußen. Mittels einer multiplen Schaltung von Effektgeräten an seiner Gitarre füllt er den Raum, in dem ein paar Besucher auf Theatersesseln hocken, mit voll abgespactem Generation- Star-Wars-Cinemascope-Sensurround-Sound. Ganz allein. Ab und zu dreht er sich um, um sein eigenes Ebenbild im großen Spiegel zu betrachten – ja, ist das denn noch zu fassen? Ist nicht heute, nach dem Ende der großen Erzählung, alles Multimedia? Und muß Journalismus, gerade der engagierte, dem nicht Rechnung tragen?

Achtung, Achtung, Mayday, Mayday, dies ist ein multiauktorialer Text! Mix-, Cut- und Scratch- Geräusche sind ebenso beabsichtigt wie die Ähnlichkeit mit lebenden Personen. Etwa dem 72jährigen Günther Discher, der, als eine Art Vorläuferfigur des Nightclubbing in die Berliner Volksbühne geladen, Swing-Platten aus der Vorkriegs- und Kriegszeit auflegt. Begeisterte Ohrenzeugen berichten von knochentrockenen Anmoderationen („Bitte lassen Sie das Mobiliar heile!“) und großer Ähnlichkeit dieses Early Jazz mit heutigem Drum 'n' Bass – ist alles eins? Leicht gesagt, denn mehr als fünf Leute haben den Weg in den Grünen Salon nicht gefunden.

Wer hat aber auch die Wahnsinnsidee gehabt, einen tanzenden Kongreß zum Thema Club um 19.30 Uhr beginnen zu lassen, bloß weil man das in der Volksbühne sonst so macht? Stark gebündeltes Sonnenlicht von der Sorte, die in Filmen Vampire zu Staub werden läßt, fällt seitlich durch die Fensterfront des Roten Salons, wo Clubbesitzer und andere Dance-Unternehmer die Zukunft von Techno nach dessen Gang in die Breite diskutieren. „Leicht abgehangene, zynische Runde“, wie selbst der Moderator feststellen muß, aber ohne Interesse, sich darüber zu streiten. Ich bin okay, du bist okay. Einzige derzeit erkennbare Tendenz: „Man geht jetzt in die Kultur rein.“ Christian Höller, Austrointellektueller aus Graz, liest derweil im Grünen Salon, unbeeindruckt vom bald allgemein einsetzenden Triphoppen und Drumbassen der diversen Sound Systems, stoisch aus seinem Vortrag „Widerstandsrituale und Pop-Plateaus“: „Das hegemoniale Prinzip der sich selbst dominant setzenden Kultur ist umgekehrt proportional responsabel für die relative Abwesenheit, also, äh, die Absenz von Frauen auf den rhizomatischen Ebenen der Verknüpfung...“ – yeah, man, aber das hältst du doch im Kopf nicht aus!

Gegen 23 Uhr: Rainald Goetz und DJ Westbam sind nicht erschienen wg. des Eindrucks mangelnder Diskussionsstrukturvorgabe durch den Veranstalter. Dick Hebdidges ein wenig lauer Vortrag zur Geschichte der Club Culture ist vorbei, aus der allgemeinen Kulisse der Geräusche und vorbeiströmenden BesucherInnen entsteht erstmals so etwas wie ein kontinuierlicher Flow. Alles wird immer simultaner. Discokontrolle: HipHop (Roter Salon), Retro- Disco (in einer Nische mit Durchgang), History in the Mix (Grüner Salon), Avant-Elektronik (TokTok-Bar). Es kommt aber nirgendwo wirklich Intensität auf. Einfall: Die vielen Räume der Volksbühne mit ihren durch Treppenhäuser gewundenen Ebenen spiegeln die Struktur dieser zersiedelten Stadt, die keine Mitte hat und in der man sich auf engstem Raum in totaler Gleichzeitigkeit übersehen kann. Ist das jetzt Dissemination?

Stunden später, Drogen genommen. Ist nicht alles leichter, wenn Pflicht zur Sinnstiftung entfällt? Plötzlich nur noch Bilder und Klänge und frei fließende Gespräche. Blubberstrukturen und Acid- Muster aus Licht füllen die Kuppel der großen Bühne, wo jetzt zu gutem, lautem Sound von Gott knows wem in Riesen-Rave-Atmo getanzt wird – welcome to the pleasure dome! Nebelmaschinen, elektronischer Sternenhimmel, warum nicht? Das ist ganz sicher Dissemination jetzt, Denkmaschine und andere metakritische Instanzen fast ganz ausgeschaltet, aber dann – bleep!!!: Ein winzig kleiner Raver mit einem ziemlich großen Rucksack, den er auch beim Tanzen nicht ablegt, stundenlang und ohne erkennbare Steigerung in ein und derselben Motorik begriffen, verdichtet sich zur Epiphanie des ausgehenden Jahrhunderts, jugendkulturell gesehen. Später starkes Bedauern wg. Rückfalls in Kulturpessimismus.

Mayday, Mayday... bitte kommen...! Der nächste Tag ist dann immer der schwerste. Es ist noch hell draußen, im abgedunkelten Theatersaal wird bereits der Film „Planet of the Vampires“ gezeigt, ein trashiger Italo-SF-Horrorfilm aus den Sechzigern, mit blubbernden, fiepsenden und brummenden Geräuschen aus den Bastelkellern von Curd Duca bis Tangerine Dream. In einzelnen Szenen kommen die Figuren auf der Leinwand mal zu Wort, der Rest ist Sound und die Handlung sowieso egal: die ideale Einstimmung.

Plötzlich wieder Welt der Rede. Das Main Panel auf der Großen Bühne („Technologie und Musik“ – quo vadis?) bringt die finale Versöhnung der Prinzipien Kuttner und Kittler, also zwischen ostig habituellem Berlinern in Repräsentanz des Genius loci („Professor Kittler, ick hab da so'n Uffsatz von Ihn' jelesen...“) und mittlerweile arriviertem Intellektuellen-Techno-Quicksprech von seiten des Mannes von der Humboldt-Universität, assistiert von einer Runde mehr oder minder elektronischer Denker, Programmierer und Composer. Inhaltlich schwer festzumachen, aber auch prinzipiell mehr von der Performanz her zu sehen – als Techno-Promi-Talk-Runde.

Roter Salon: das subkulturelle Abziehbild davon. Vertreter diverser printelektronischer Publikationskanäle assoziieren frei zum Thema „Medien, Labels, Kulturindustrie“. Das kommunikative Versagen ist in der Runde am größten, weil die heroische Identifizierung mit dem jeweiligen Zeitschriftenprojekt das Prinzip Talkshow, auf das man sich nolens volens eingelassen hat, von sämtlichen Himmelsrichtungen her sabotiert. Im Grunde sympathisch also, trotzdem Eindruck durchdringender Peinlichkeit. Kein Moderator, nirgends. Ans Licht gehoben, bleibt von den eleganteren Erzählungen der Dissidenz bloß noch eine Art Salon de Verschwörung.

Wiederum simultan: Im Grünen Salon „Club Design in den Neunzigern“. Soll man es gut finden, daß Jimi Tenor auf allen Medien abgefeiert wird? Ist das antielitär? Oder klaut einem die Industrie alles weg: Grafik, Mode, Musik – die Lebenszyklen werden jedenfalls immer kürzer. „Ist es denn so wichtig, ständig was Neues zu haben?“ platzt es aus einem der Eisdieler- Fashion-Verkäufer auf dem Podium schließlich unvermittelt heraus. Beim abendlichen Ausgehen gehe es doch eh immer um das gleiche Ziel: sich unterhalten, gut draufsein. Lichtblick: die Diskussion über Partydrogen und die Folgen im Grünen Salon. Parareligiöser Drogenspiritualismus, wie ihn „der Timothy Leary von Berlin“, Hans Cousto, verkörpert, kollidiert ernüchternd mit der funktionalen Beschreibung des Usertums als einer Art sozialen Dopings durch den Techno-Aktivisten und Buchautor Patrick Walder.

Ausschwärmen: über die Treppenhäuser, vorbei an niedlichen Comic-Installationen von Jim Avignon. In originalen Schwarzweißaufnahmen hoppeln über eine Leinwand Girl-Groups der Sixties wie die Ronettes und die Shangri- Las, aber die meisten Salon- Clubber schauen nicht hin, sondern gruppieren sich um volle Ascher und leere Plastikbecher. Club, nicht Kino.

Nach Mitternacht dann Modenschau in Klarsichtfolien, OP-Kitteln und zerrissenen Plastiktüten, eine Art futuristischer Hobo- Look. Mit breakdanceartigen Roboterbewegungen zockeln die Gestalten über das Foyer, wie Zombies auf einer Giftmülldeponie. Ein baumlanger Glatzkopf im weißen Felljäckchen schubst sich durch und stellt sich direkt vor die Menge – „ich bin von der Presse“. Auch nicht alles Peace hier. Als er geht, bekommt er einen Plastikbecher an den Hinterkopf. Auf der großen Bühne, die eine hervorragende Tanzfläche abgibt, haben schon längst die Turntables das Wort ergriffen.

Irgendwann, irgendwann sehr viel später erklingt plötzlich „A Whiter Shade Of Pale“ sehr laut, aber ganz und gar nicht als zeitgemäßer Remix, sondern eindeutig und stolz die Originalversion. Die Veranstaltung ist noch voll im Gang, aber längst haben die traditionellen Bewohner des Roten Salons sich unter das Kongreßpersonal gemischt und wieder ihr Biotop übernommen. Teds gleiten auf weichen Sohlen in den Morgen.

Kein Fazit, sondern Stimmen zum Spiel: „Ist ja wie auf der PopKomm hier“ (Hamburger Szenegängerin); „überall bekannte Gesichter, nur was für Eingeweihte“ (Eingeweihter); „tanzen geil, reden Scheiße“ (jugendliche Raverin); „James Brown zieht immer“ (Berliner Nachtschwärmer); „also ich fand's gut“ (Christine). „Insgesamt gesehen ist das Hegelsche System eine Maschine der Zuversicht“ (Ulf Poschardt). Schluß- Sample Kraftwerk: „Es wird immer weitergehn / Musik als Träger von Ideen.“ In the Mix: Gerrit Bartels,

Daniel Bax, Thomas Groß,

Thomas Winkler