Nie nur ein Höfling Mitterrands

■ Statt von großen Projekten, wie die Sozialisten vor ihm, spricht Lionel Jospin immer vom Machbaren. Er weiß um die Erwartungen

Natürlich ist die langstielige rote Rose „für Lionel“. Die alte Dame im bunten Zweiteiler hat sie zur Wahlfete der Sozialisten mitgebracht. Aber selbst als der Sieger nachts um 2 Uhr endlich aus seinem Wahlkreis bei Toulouse in Paris eingeflogen ist und mit langanhaltendem Beifall und „Wir haben gesiegt“-Rufen begrüßt wird, überreicht sie ihm die Blume nicht. „Das sieht so nach Mitterrand aus“, begründet sie ihre Zurückhaltung. „Er wird das nicht mögen.“

Lionel Jospin ist kein Höfling des Sozialisten im Elysee-Palast gewesen. Mitterrand, der ihm 1981 zum erstenmal den Vorsitz der PS übertrug, nannte ihn einen „integren und arbeitsamen Mann ohne Humor, aber mit Talent und Zukunft“. Jospin fragte 1988, als Mitterrand sich zu seiner zweiten Präsidentschaftskandidatur anschickte, zurück: „Ein zweites Septennat? Um was zu tun?“

Der strenge Jospin machte vorerst keine politische Karriere. Unter Mitterrand brachte er es nur zu dem bescheidenen Posten an der Spitze des Erziehungsministeriums, wo er, wie sich die Lehrer erinnern, „keine schlechte Arbeit machte“. 1990 beim Parteitag in Rennes probte Jospin, der längst nicht mehr Parteichef war, den offenen Machtkampf gegen den Präsidenten. Sein Ausspruch: „Es gibt keine mitterrandistische Strömung mehr in der Partei“, besiegelte seinen vorübergehenden Rückzug aus der Politik und qualifizierte ihn für die Zeit nach Mitterrand.

Heute ist Jospin fast 60 Jahre alt, seine dichten Lockenhaare sind schlohweiß, seine Freunde nennen ihn „Yoyo“, und sein Auftreten ist zwar immer noch stocksteif, aber dennoch entschieden lockerer als früher. Seine zweite Gattin, die Philosophin Sylviane, soll darauf großen Einfluß gehabt haben. Gedopt hat ihn möglicherweise auch der Erfolg, der ihn begleitet, seit er 1995 zum zweitenmal an die Spitze der PS gelangte. Damals war Jospin nichts weiter als der Notnagel für eine bei den Parlamentswahlen von 1993 zur Splitterpartei verkommenen PS, deren Spitzenpolitiker entweder mit Mitterrand verbandelt waren (Fabius, Emmanuelli) oder sich durch Wahlniederlagen desavouiert hatten (Rocard). Nachdem Ex-EU-Präsident Delors abgewunken hatte, sollte Jospin außerdem sozialistische Präsenz bei den Präsidentschaftswahlen zeigen. Mehr wurde nicht von ihm erwartet.

Jospin überraschte alle. Der Mann ohne das Charisma, Pathos und die Theatralik der Mitterrandisten wurde Sieger im ersten Durchgang und bekam bei der Stichwahl gegen Chirac stattliche 47 Prozent der Stimmen. Das Ergebnis machte ihn zum unbestrittenen Chef der Opposition, obwohl er nicht einmal ein Abgeordnetenmandat hatte, und schaffte die Voraussetzung für die triumphale Rückkehr der Sozialistischen Partei.

Statt von großen Projekten, wie die Sozialisten vor ihm, spricht Jospin von Realismus. Das in aller Eile fertiggestellte sozialistische Wahlprogramm trägt deutlich seine Handschrift. Es propagiert den Euro — aber mit sozialen Zusätzen und nicht ohne Spanien und Italien. Es fordert die 35-Stunden-Woche — aber erst in drei Jahren. Und er will die Privatisierungen nicht etwa stoppen, sondern neu überdenken. Und statt großer Versprechungen versuchte Jospin selbst in der heißen Phase des Wahlkampfes wahrhaftig zu bleiben. Den Renault-Arbeitern, die mehr von ihm erwarteten, sagte er, als Premierminister werde er „versuchen“, die Schließung der belgischen Niederlassung Vilvoorde rückgängig zu machen.

Die Erwartungen an die neue Regierung, die 700.000 Arbeitsplätze, eine Stärkung der Kaufkraft und die Abschaffung der Immigrationsgesetze von Pasqua und Debré versprochen hat, sind dennoch riesig. Jospin weiß, daß die Sozialisten dieses Mal keine zweite Chance haben werden. Er bleibt also bei der Bescheidenheit, die seinen Wahlkampf geprägt hat. In der Nacht zu Montag sagt er, der gerade 14 Millionen Stimmen bekommen hat, um 2 Uhr morgens seinen Pariser Anhängern: „Wir müssen uns das Vertrauen der Franzosen verdienen.“