Der Erfinder der Reaganomics

Romane voller Töne und Pläne für ein Hörspiel: Ein Abend mit William Gaddis  ■ Von Joachim Büthe

Sonntag abend kurz nach acht. Der Saal der Kölner Cinemathek ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt. William Gaddis, einer der bedeutendsten Autoren der amerikanischen Gegenwartsliteratur, der oft in einem Atemzug mit Thomas Pynchon genannt wird, ist gekommen. Zwar versteckt Gaddis sich nicht, ließ sich in Köln auch bereitwillig fotografieren, doch er gilt als öffentlichkeitsscheu, nur selten zu Interviews bereit, einer, der den Rummel des Literaturbetriebs verachtet. Insofern ist eine Gaddis- Lesung eigentlich ein Widerspruch in sich. Oft genug hat er betont, daß es nicht die Aufgabe des Schriftstellers sei, als Darsteller seiner selbst auf die Bühne zu treten, um Schaulust und Unterhaltungsbedürfnis zu befriedigen. Ein Schriftsteller soll schreiben, das ist schwer genug, und alles andere ist alles andere.

Einmal hat William Gaddis dennoch schon in Deutschland gelesen, wenn auch mit Unwillen, vor knapp zehn Jahren in Berlin. Damals war noch keiner seiner vier Romane übersetzt. Spätestens seit dem zweiten („JR“, Originalausgabe 1975) beruhen sie wesentlich auf Tönen. Man muß sie mit den Ohren lesen, so hat er es selbst gesagt. Der Klang treibt die Handlung voran, akustische Signale verändern sie. Die Romane scheinen bestens geeignet zu sein, mit verteilten Rollen laut vorgelesen zu werden, doch das Ineinandergreifen der Töne findet auf dem Papier statt. Gaddis' Kunst ist die einer perfekten Übersetzung von gesprochener Sprache in Schrift, die eine Rückübersetzung nahelegt und zugleich unmöglich macht. „Es geht nicht“, befand Arno Widmann vor zehn Jahren in dieser Zeitung. „So wie er schreibt, kann man nicht lesen. Ein zankendes Ehepaar, dazu der Fernseher, die Geräusche draußen und drinnen, alles gleichzeitig, und ständig wechselt die Aufmerksamkeit... Das laute Lesen macht die Polyphonie der Komposition unhörbar, zerstört also genau das, worauf es in diesem Falle ankommt.“

Ein zweites Mal war eine Lesung in Frankfurt/Main angekündigt, im letzten Jahr. Gaddis sagte kurzfristig ab. Statt seiner las Hanns Zischler aus den nun vorliegenden Übersetzungen. In Köln war es ähnlich. Gaddis war zwar anwesend und beantwortete Fragen, überließ aber Zischler den Part des Vorlesenden. Die Hauptsache, so Gaddis, spielt sich immer noch zwischen dem Buch und dem Leser ab. Hanns Zischler schaffte es, den einzelnen Stimmen Individualität zu verleihen, ohne den Rhythmus des Textes aufzubrechen: ein sprechartistischer Hochseilakt, der völlig unprätentiös daherkommen muß, denn jedes Posieren wird mit Absturz bestraft.

„Ich bin einmal mehr widerlegt worden“, kommentierte Gaddis Zischlers Vortrag. Worauf auch immer dieses „einmal mehr“ sich bezogen haben mag, seine Bücher kann er nicht gemeint haben. Sie waren zu früh da, Prognosen von Entwicklungen, die man zum Zeitpunkt ihres Erscheinens noch ignorieren konnte, nun aber nicht mehr. Insofern war dieses Eingeständnis ein leicht vergiftetes Kompliment, eine Mischung aus Anerkennung und höflicher Ironie.

Unverhohlen zeigte Gaddis seine Freude über die Resonanz, die seine Arbeit nun endlich hierzulande findet. Erfolg und Anerkennung in Deutschland kamen mit der Gewalt einer Explosion. Jahrzehntelang galten seine Bücher als unübersetzbar und – wenn es denn doch gelänge – als sichere Kandidaten für ein kommerzielles Desaster. Die amerikanischen Verkaufszahlen legten das nahe, und als 1988 als erste Übersetzung „Der Erlöser“ erschien, bestätigte sich diese Prophezeiung: viel Lob von der Kritik, doch gerade einmal 2.000 verkaufte Exemplare.

Seit letztem Herbst paßt aber alles zusammen. Zwei Hauptwerke in zwei Verlagen (Rowohlt und 2001), beide hervorragend übersetzt, eine nahezu einhellig begeisterte Kritik und Auflagen, die sich sehen lassen können. Gaddis dürfte – bezogen auf die Größe des Marktes – zur Zeit hier mehr Leser haben als in seiner Heimat. Für ihn ist das eine hochwillkommene Überraschung, für die er eine schmeichelhafte Erklärung hat: Offenbar gäbe es hier noch Leser, die wirklich lesen wollten, eine Angewohnheit, die man in Amerika auszurotten trachte. Leser, die sich nicht abschrecken ließen von Besprechungen, die Mr. Gaddis zu einem schwierigen Autor erklären.

Vielleicht, das hieße den Optimismus angesichts der tiefschwarzen Bücher von William Gaddis auf die Spitze treiben, gibt es sogar eine Gegenbewegung. Ein Lesepublikum, das von einem Realismus angezogen wird, der mit den literarischen Mitteln des Realismus nicht mehr auskommen kann. Ich habe die Reagonomics erfunden, kann Gaddis behaupten, denn er hat in „JR“ ihre Auswirkungen beschrieben, bevor sie begannen. „Letzte Instanz“ führt ein Rechtssystem vor, das durch Überbeanspruchung, durch ständiges Prozessieren aus den Fugen gerät. Dies alles grundiert Gaddis mit dem allgemeinen Geschwätz, der Unfähigkeit zu schweigen und zuzuhören. Ständige Mißverständnisse, die Wahrnehmung durch Überlastung abgeschottet, nur hören, was man zu hören wünscht, und reden nur zur Selbstbestätigung. Natürlich, das ist furchtbar und furchtbar komisch, ist mit den Mitteln der stimmigen, fortlaufenden Geschichte nicht mehr einzuholen – und Realität. Wenn aber die Realität nur mit hochentwickelten literarischen Techniken noch einzufangen ist, dann zieht die Fiktion in die Zeitungen ein. Um dies zu belegen, kündigte das lokale Boulevardblatt den Besuch von Gaddis wie folgt an: Todkranker Kultautor kommt nach Köln. Immerhin, die Ortsangabe war richtig.

William Gaddis ist ein zarter, fragil wirkender, vierundsiebzigjähriger Mann, der zum Gehen einen Stock benutzt. Seine Auskunft, er fühle sich geistig den „dead white men“ zugehörig, ist nicht wörtlich zu verstehen. Er hat noch Pläne, will beispielsweise seine Polyphonie nun wirklich in ein Hörspiel umsetzen. Das war der zweite Grund, um nach Köln zu kommen. Die Lesung war eine Veranstaltung des noch unbehausten Kölner Literaturhauses und des Deutschlandfunks, der sie auch bundesweit ausstrahlen wird, voraussichtlich am 27.9. Am nächsten Tag war Gaddis im Funkhaus, wo er seine Absicht verkündete, nun erstmals für ein akustisches Medium zu arbeiten. Dem kleinen Sender ist damit ein großer Coup gelungen. Das Radio in Amerika bietet Gaddis diese Möglichkeit nicht. Er beschreibt es als ebenso zugeschnitten auf das Auto wie der Rest des Landes auch. Nur dort werde es noch gehört, und entsprechend sei es auch.

Es war nur die Grundidee, die Gaddis zum jetzigen Zeitpunkt vortragen konnte. Sie beruht auf einem kurzen Krankenhausaufenthalt im letzten Jahr. Ein Mann lag hinter dem nächsten Vorhang, der Tag und Nacht, eine Woche lang, die gleichen Worte rief: „Hallo! Hallo! Ich brauche Hilfe.“ Eine Art basso continuo oder der Chor der griechischen Tragödie, vor dessen Hintergrund der andere Patient (Gaddis) versucht, ein wenig zu arbeiten. Hinzu treten Besucher und andere Belästigungen, quietschende Türen, keine Musik außer der dissonanten Musik der Stimmen, eine Art milder Wahnsinn, der gedämpfte, alltägliche also.

Zu welchem Ergebnis diese Ausgangssituation führen wird, weiß selbstverständlich noch keiner der Beteiligten, geschweige denn der Autor selbst. Nur so viel ist klar: Es ist eine Gaddis-Situation, eine Hörsituation, ein akustisches Einfallstor für die Absurdität der Fakten. Und es wird eine Reduktion stattfinden, verglichen mit den großen Romanen, in denen der Leser das bessere, das imaginäre Ohr hat. Auch Hanns Zischler hat sich in seiner Gaddis-Lesung klug auf Szenen beschränkt, in denen die Anzahl der Stimmen überschaubar blieb: Ausschnitte aus einem gewaltigen Orchester. Niemand wird es ihm verdenken, sich dabei auch auf die Tragfähigkeit der Gaddis'schen Slapstickkomik verlassen zu haben.

Mit auf dem Podium im Saal der Cinemathek saß Gaddis' Freund und Kollege William Gass. Er lese, bekannte Gass, Gaddis nicht zuletzt, um seinen Ekel vor der Menschheit zu erneuern. Sprach's und brach in Gelächter aus. Konsequent und folgerichtig ist das nicht, aber vermutlich die einzige Möglichkeit, ohne Illusionen weiterzumachen. Konsequent ist auch Gaddis nicht. Am Schluß der Lesung las er doch: eine kurze Passage eines Schriftstellers, den er außerordentlich schätzt, aus einem Roman, auf dessen auch komische Qualitäten sachdienliche Hinweise schon vorliegen, eine Passage aus Dostojewskis „Dämonen“.