IG Chemie verzichtet auf Lohn

■ Öffnungsklausel in der Chemieindustrie vereinbart. Erstmals können Löhne um zehn Prozent gesenkt werden

Hannover (taz) – In einzelnen Unternehmen der Chemieindustrie kann vom kommenden Jahr an durch Betriebsvereinbarung der Lohn generell um bis zu zehn Prozent gekürzt werden. Auf eine entsprechende Öffnungsklausel für den bisher allgemein verbindlichen Flächentarifvertrag haben sich am Dienstag abend in Hannover die IG Chemie und die Arbeitgeber Chemie geeinigt. Nach der Öffnungsklausel, die bisher in der westdeutschen Tarifgeschichte ohne Beispiel ist, müssen einer Lohnsenkung in einzelnen Betrieben neben dem betroffenen Betriebsrat auch die Tarifparteien, also die IG Chemie und die Chemie-Arbeitgeber, zustimmen.

Die zwischen beiden Seiten vereinbarte „Strukturreform des Tarifvertragssystems“ gibt den Betriebsräten außerdem das Recht, in wirtschaftlich florierenden Unternehmen mit der Geschäftsführung Verhandlungen über höhere Sonderzahlungen oder eine Gewinnbeteiligung durch Vermögensbildung aufzunehmen. Das für die Tarifpolitik zuständige IG-Chemie-Vorstandsmitglied Hans Terbrack sprach deswegen am Dienstag abend von einem „Entgeltkorridor“, auf den man sich geeinigt habe.

Nach der Öffnungsklausel darf ein Unternehmen keineswegs nur in einer wirtschaftlichen Notlage seinen Betriebsrat um Lohnsenkung bitten. Eine derartige Vereinbarung können Geschäftsleitung und Arbeitnehmervertretung nach Angaben der IG Chemie auch abschließen „zum Zwecke der Beschäftigungssicherung, des Beschäftigungsaufbaus, der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit“ oder „um Investitionen am Standort zu ermöglichen“. Nach Angaben der Gewerkschaft kann von einem Unternehmen, das seinen Lohn senken will, rechtlich weder die Zustimmung des Betriebsrates noch später die der Gewerkschaft oder der Arbeitgeberseite erzwungen werden. Die IG Chemie will bei Lohnsenkungen vor allem beschäftigungssichernde Maßnahmen, wie etwa den Ausschluß betriebsbedingter Kündigungen, vereinbaren. In einer Protokollnotiz haben die Verhandlungspartner festgehalten, daß vor allem in Betrieben der kunststoff-, der kautschukverarbeitenden und der Chemiefaser-Industrie über die Öffnung des Flächentarifvertrages verhandelt wird. Die Forderung dieser Industrien nach einem eigenen und niedrigeren Spartentarifvertrag hatte am Beginn der Verhandlungen über die Öffnungsklausel gestanden. Die hannoversche Conti-AG kündigte bereits gestern Verhandlungen mit dem Betriebsrat über eine Lohnabsenkung an. Jürgen Voges