Urnengang mit tödlichem Risiko

■ Heute finden in Algerien die ersten Parlamentswahlen seit dem Militärputsch 1992 statt. Eine Wahl im Bürgerkrieg: Zehntausende Menschen wurden in den letzten Jahren ermordet Aus Algier Reiner Wandler

Urnengang mit tödlichem Risiko

Der Platz der Märtyrer direkt an der kolonialen Uferpromenade Algiers gibt Hassan (22) Tag für Tag die Möglichkeit, aus der häuslichen Enge zu entfliehen. Zu elft wohnt die Familie in einer viel zu kleinen Wohnung. Hassan will sich die Zeit vertreiben, bevor er abends ins Gassengewirr der Kasbah auf der anderen Seite des Platzes zurückkehrt. „Die Wahlen?“ fragt er. „Die werden nichts ändern. Das Land braucht endlich Frieden, um aus der Krise zu kommen.“ 1991 verhalf der seit drei Jahren arbeitslose Optiker mit seiner Stimme der Islamischen Heilsfront (FIS) zum Sieg. Doch die Militärs erklärten die Abstimmung für null und nichtig und verboten die FIS. Seither herrscht in dem Land Bürgerkrieg. Bilanz: zwischen 50.000 und 100.000 Tote. Dieses Mal bleibt Hassan am Wahltag zu Hause – keine der Parteien kann ihn überzeugen.

Die kurz vor den Wahlen gegründete Nationaldemokratische Versammlung (RND) verkörpert die herrschende Macht. Die „Neugeborenen mit Bart“, wie die RND zynisch genannt wird, stützen sich auf hohe Vertreter des Regimes und kennen nur ein Ziel: Exgeneral und Staatspräsident Liamine Zéroual vom Parlament aus zu unterstützten. Um Stärke zu beweisen, eröffnete der RND-Gründer und Präsident des von den Militärs eingesetzten Übergangsparlaments, Abdelkader Bensalah, seinen Wahlkampf in Hassans Stadtteil. Einst war er Hochburg der FIS, heute ist er Rückzugsgebiet für die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA). Jeder, der an den Wahlen teilnehme, müsse damit rechnen, ermordet zu werden, hieß es vor der Abstimmung von diesen Radikalislamisten. Vor den Wahllokalen patrouillieren schwerbewaffnete Militärs.

„Frieden und Sicherheit“ versprach Bensalah unter starkem Polizeiaufgebot vor den Wahlen. Gleichzeitig begann die Armee eine Großrazzia in und um die Hauptstadt. 145 mutmaßliche Terroristen sollen dabei erschossen worden sein. Doch die GIA scheint das nur wenig geschwächt zu haben. Über 180 Menschen fielen in dem 19 Tage dauernden Wahlkampf islamistischen Kommandos zum Opfer. Seit das Innenministerium das Abstellen von Fahrzeugen auf den Hauptstraßen Algiers untersagt, ersetzen die Islamisten die Autobomben durch in Kartons oder Plastiktüten versteckte Sprengsätze.

Die gemäßigten Islamisten der Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens (MSP) will Hassan ebenfalls nicht wählen. Sie sind für ihn „nur das andere Gesicht der Macht“ und sichern Zéroual vom islamistischen Lager aus ab. Bleiben nur die demokratischen laizistischen Parteien wie die Arbeiterpartei (PT) der Trotzkistin Louisa Hanoune und die Front der Sozialistischen Kräfte des Bürgerkriegsveteranen Hocine Ait Ahmed. Mit letzterem sympathisiert Hassan wegen dessen wiederholten Aufrufen zum Dialog zwischen Regime und der FIS. Doch glaubt Hassan, daß „die eh nichts ausrichten können“. Zudem sei „das Ergebnis bereits von vornherein klar“. An faire Wahlen glaubt Hassan nach Putsch und fünf Jahren Militärherrschaft nicht mehr.

Der Platz der Märtyrer ist deutlich leerer als an anderen Tagen, auf den Straßen herrscht weniger Verkehr als üblich. Über der Stadt liegt eine gespannte Ruhe. Vollbesetzte Polizeifahrzeuge bestimmen das Bild. Aus ihren Fenstern ragen MP-Mündungen. Den über dreihundert aus aller Welt angereisten Journalisten wird nur unter Begleitung von Bodyguards des Innenministeriums der Weg aus dem Hotel gestattet.

Aes (65) und Benimia (67), zwei Rentner, die von der Treppe eines Konzertpavillons den Platz beobachten, kennen ebenfalls nur den Wunsch nach „Ruhe und Frieden“. Zuviel Gewalt habe das Land gesehen, seit sie in ihrer Jugend mit der FLN in den Krieg gegen die Kolonialmacht Frankreich zogen. Wem sie ihre Stimmen geben werden, darüber schweigen sie sich aus. Ihre Lehre aus den letzten fünf Jahren: „Vielleicht war das Einparteiensystem doch besser.“