„Coming Out“ verband die Szenen

taz-Serie: 100 Jahre Schwulenbewegung (Teil 5): Ost und West – die doppelte Homo-Hauptstadt. Rechts und links der Schönhauser Allee und in Schöneberg sind die schwulen Zentren Berlins  ■ Von Holger Wicht (West)

Regisseur Zufall hat manchmal die besten Einfälle: „Coming Out“, der erste und letzte Defa- Schwulenfilm, feierte Premiere, als am 9. November 1989 die Mauer fiel. „Coming Out der DDR“ hieß denn auch der Abend zum Thema bei „Homo 2000“, dem Programm zum Geburtstag der Schwulenbewegung in der Akademie der Künste. Noch einmal füllte der Heiner- Carow-Film ein großes Kino mit Zuschauern aus Ost und West – ein reines Ost-Publikum hatte es nur bei der Premiere gegeben.

Rosa von Praunheim war sich ganz sicher, der im Februar verstorbene Regisseur weile in irgendeiner Form unter den Anwesenden. In persona waren die Hauptdarsteller Matthias Freihof und Dirk Kummer angekündigt. Freihof, mittlerweile weniger als junger schwuler Lehrer bekannt denn als älterer (West-)Schuldirektor Dr. Magnus aus dem Marienhof, ließ sich allerdings entschuldigen. So durfte oder mußte Kummer alleine ein weiteres Mal von der Entstehung des Films in der DDR der Vorwendezeit berichten. Und natürlich davon, wie die Nachricht von der offenen Grenze bei der Premiere für wenig Aufregung sorgte: „Wir dachten, das sei nur einseitig und man könne nicht mehr zurück, wenn man einmal ausreiste.“

Am 9. November kamen Westler – wegen Carow

Ohnehin war der erste „eigene“ Film erst mal wichtiger. Das Publikum dankte Carow und seinem Team mit minutenlangen Standing ovations und wochenlang ausverkauften Vorstellungen. „Zunächst hatten wir befürchtet, es würde niemand ins Kino kommen, weil alle in den Westen fahren würden, um sich ihre 100 Mark abzuholen“, erinnert sich Kummer, „aber dann war es umgekehrt: Die Leute aus dem Westen kamen, um sich unseren Film anzusehen.“

Seit Beginn der 70er Jahre war das geteilte Berlin eine doppelte Homo-Hauptstadt. Den Anstoß zur „Neuen Deutschen Schwulenbewegung“ in Ost und West gab der umstrittene Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ von Rosa von Praunheim aus dem Jahr 1971, zwei Jahre später ausgestrahlt von der ARD – die ostdeutschen Schwulen und Lesben waren via „Westfernsehen“ dabei.

Die Situationen, in denen Homosexuelle im Osten und Westen lebten, waren verschieden: In der Bundesrepublik war die Zeit reif für den forschen Schritt an die Öffentlichkeit. Die „Homosexuelle Aktion Westberlin“ (HAW) wurde 1971 gegründet, „Homos raus aus den Löchern“, lautete der Tenor der ersten eigenständigen Schwulendemonstration zu Pfingsten 1973 in Berlin. Hier erblickte auch die ewige Streitfrage schwuler Politik das Licht der Welt: Provokation oder Integration – die junge Bewegung fand sich gespalten, nachdem französische und italienische Gäste in Frauenkleidern gegen Diskriminierung demonstriert hatten und in der Presse die Rede vom „Marsch der Lidschatten“ ging. Der „Tuntenstreit“ war geboren. Heute wird anhand der Homo-Ehe darüber debattiert, ob der Weg zur Emanzipation über Integration führen soll oder darf.

In der DDR waren derweil moderate Töne gefragt. 1973 gründete sich die „Homosexuelle Initiative Berlin“ (HIB). Man traf sich zunächst in Privatwohnungen, später im Keller des Gründerzeitmuseums Charlotte von Mahlsdorfs. Doch obwohl die DDR den Paragraphen 175 bereits 1950 entschärft und 1968 vollends abgeschafft hatte, wurde die HIB 1978 de facto verboten. Als sich Anfang der 80er Jahre in Berlin, Leipzig und Magdeburg innerhalb der Kirche Schwulen- und Lesbengruppen bildeten, begann die Stasi flächendeckend mit der „operativen Observation“. Die Stasi-Abteilung XX für Kunst, Kultur und Untergrund hielt damals fest: „Diese Interessensgruppen werden von politisch negativen und feindlichen Kräften als Basisgruppen einer politischen Untergrundtätigkeit betrachtet und zunehmend als eine innere Opposition profiliert.“

Für die HIB begannen in diesem Klima Jahre der Wanderschaft durch Kneipen und Clubs. Meistens war für die Zusammenkünfte der Gruppe nur noch der Sonntag frei – so heißt das Kind seitdem „Sonntags-Club“. Die Wende eröffnete Möglichkeiten: Die Ämter waren plötzlich entgegenkommend, schnell waren die Räume in der Rhinower Straße im Prenzlauer Berg gefunden. 70 Mark (Ost) Monatsmiete flossen aus den Haushaltskassen der Aktiven, die Einrichtung klaubten sie aus Kellern und Speichern zusammen. Bislang hatte schwul-lesbisches Leben fast ausschließlich rechts der Schönhauser Allee stattgefunden. Das sollte sich mit der Pioniertat auf der linken Seite ändern. Nach der Vereinigung waren die ABM-Stellen für den Osten großzügig bemessen. Der „Sonntags-Club“ expandierte und führt heute stolz den Untertitel „Berliner Vereinigung lesbischer, schwuler, bi- und transsexueller BürgerInnen“.

Auch die familiären und eher rustikalen Kneipenlegenden rechts der Schönhauser haben die DDR überdauern können. Dies obwohl nach der Wende die Westler einfielen im „Caf'e Schönhauser“, in der „Schoppenstube“, der ältesten Institution am Platze, und im „Burgfrieden“, dem räumlichen Dreh- und Angelpunkt in „Coming Out“. Nicht immer konnten die Besucher unterscheiden zwischen Interesse und Despektierlichkeit, zwischen Besuch und Invasion.

Noch war der Graben nicht überbrückt. Natürlich fuhren auch die Ostler in den Westen. Unbekannt ist die Anzahl der Begrüßungshunderter, die im „Bermudadreieck“ am Nollendorfplatz den Besitzer wechselten. Der schwule Kiez mit der Motzstraße als Flaniermeile hat Tradition: Schon in der Kaiserzeit fand hier das Nachtleben des „Dritten Geschlechts“ statt, heute verfügt die Gegend über eine fast lückenlose schwule Infrastruktur. Der ausgehlustige Literat Napoleon Seyfarth hat es einmal so beschrieben: „Selbst die postklimakterische Apothekerin wünscht einem nach dem Kauf von Gleitmitteln und der Herausgabe des Wechselgeldes ,Viel Vergnügen‘. Das glaubt einem in Reinickendorf niemand!“ Ganz so selbstverständlich homofreundlich geht es in Prenzlauer Berg noch nicht zu. Doch auch hier ist die Erlebnislandschaft für Homosexuelle kräftig gewachsen – vor allem für Schwule. Neben zahlreichen Cafés und den Traditionsläden hat sich in der Greifenhagener Straße, parallel zur Schönhauser Allee, eine Art Darkroom- Achse gebildet. Im „Pick ab“, im „Romeo's“ und im „Darkroom“ herrscht bis in die frühen Morgenstunden buntes Treiben.

Berlin hat heute zwei schwule Zentren

Und auch Coming-out-Hilfe und Gruppen sind in Prenzlauer Berg zu finden: Was im Westen beispielsweise „Mann-O-Meter“ leistet, hat sich im Osten der Sonntags-Club zur Aufgabe gemacht, zahlreiche weitere Gruppen und Vereine sind entstanden, etwa das „Prenzlberger Aids-Projekt“. Berlin hat heute zwei schwule Zentren.

Den Machern der Ausstellung „Goodbye to Berlin?“ und des Begleitprogramms wird vorgeworfen, sie schlössen die Lesben von den Feierlichkeiten aus. Im Osten haben die Lesben und die Schwulen immer enger zusammengearbeitet als im Westen. Bei der Diskussion zum „Coming Out der DDR“ saß auch Uschi Sillge, Veteranin des „Sonntags-Clubs“, auf dem Podium und erklärte, für sie sei es nach der Wende „frappierend gewesen, wie im Westen Lesben von Schwulen ausgegrenzt wurden und wie sich Lesben auch selber ausgegrenzt haben.“ Während zwischen Nollendorfplatz und Schönhauser Allee heute die U-Bahn-Linie 2 verkehrt, muß der Große Graben zwischen Lesben und Schwulen offenkundig mühsam zugeschüttet werden.