■ Hamburger Musical feiert die 5.000.000. Besucherin
: Das Phantom der Tupperdose

Musicals sind dazu da, Menschen davon abzuhalten, einander mit Atombomben zu bewerfen. Zumeist kommt ein Musical aus der Feder von Andrew Lloyd Webber, und dann geht es entweder um Fabeln, Fahnen oder um Fantasie. Und immer: Liebe. Die Musik ist egal, deshalb heißt es ja auch verniedlichend Musical; voluminös und dramtisch tönt es. Menschen, die sich „Klassik zur Entspannung“-CDs kaufen oder „Best of Rock“-Sampler, sind froh, daß es Musicals gibt.

Und die Musical-Macher sind froh, daß es diese Menschen in hoher Zahl gibt, denn die ermöglichen es, daß der Freude an Gigantomanie eine Rollbahn geebnet wird. So gleichen Verlautbarungen von Musical-Betreibern immer Einladungen zu Viehversteigerungen oder Rundschreiben an Focus- Inserenten. Das „Phantom der Oper“ in Hamburg etwa ist schon deshalb ziemlich irre, weil 624 Scheinwerfer, 450 maßgeschneiderte Kostüme, ein Mischpult mit 78 Eingangskanälen und 130 Lautsprecher die stets zu 95 Prozent ausgelasteten 1.832 Plätze vollmatschen. Und am Dienstag dann wurde die fünfmillionste Besucherin erwartet. Das sind sechs Nullen hinter der fünf und wie immer 37 Nullen auf der Bühne (aus ganz vielen Nationen). Die Betreibergesellschaft hatte geladen und glatt gelogen, „Katja aus Berlin“ ahne „nichts von ihrem Glück“. Stellt sich Katja dann aber so vor: „Wir hatten ja vor zwei Wochen telefoniert.“

Katja ist ein bißchen wackelig auf den Beinen, weil jetzt alle Nullen hereinschweben und aussehen wie russische Matrjoschka-Figuren auf einem Ramschmarkt in Ostberlin. Das Ensemble singt mehrstimmig „Zum Gewinn sehr viel Spaß“ und drängt sich um Katja herum, so daß ein Fotograf „Die Katja mal 'n bißchen mehr nach vorn!“ krähen muß. Darsteller sind immer sehr eitel und Katjas immer sehr schüchtern, so ist das nun mal. Überhäuft wird Katja alsdann mit allerlei Quatsch mit Logo drauf.

Pressebetreuerinnen und Pressebetreute begrüßen sich so: „Hallo Verena, na?“ – „Hallo Matthias, na?“ Nach dem „Na“ verebbt die Unterhaltung zumeist schlagartig. Weil man ja auch arbeiten und Spitzenberichterstattung gewährleisten muß – mit solcherlei Fragen: „West- oder Ostberlin?“, „Was machen Sie beruflich?“, und natürlich niemals ohne „Wie fühlen Sie sich jetzt?“

Katja arbeitet im öffentlichen Dienst und fühlt sich jetzt doch ganz schön aufgeregt. Sie ist zwar schon zum fünftenmal da (das ist normal bei Musical-Besuchern), heute jedoch zum fünfmillionstenmal, was seltener ist, aber nicht minder erfreulich für den Geschäftsführer: „Toll, daß wir einen richtigen Fan da haben, ich hoffe und gehe davon aus, daß Sie uns auch weiterhin die Treue halten.“ Das will Katja unbedingt. Davon kann man also ausgehen.

Draußen vor der Tür fahren derweil viele Busse vor, auf denen „Müller Reisen“ oder so steht. Die Busse sind vanillesoßefarben und haben klassische weinrote Streifen. Die Insassen eigentlich auch – jetzt machen sie Tupperdosen zu, drängeln raus und gucken sich in der Glasbushaltestelle noch mal an. Sieht gut aus, also zumindest so, wie geplant. Für Notfälle ist auch ein Kamm in der Hosentasche, die gewöhnlich eines Mannes Portemonnaie beheimatet. Der öffentliche Dienst auf Reisen. Immer wieder, jede Woche, Dienstag bis Sonntag. Und niemand hilft Katja, all die unnützen Gewinne in den Saal zu tragen. Denn jetzt kommt ja noch das Musical. „Ach“, sagt eine Musical-Firma-Frau, „da haben Sie jetzt das Problem mit den ganzen Sachen.“ Und geht weg. Katja aus Berlin. Ganz allein in der Stunde ihres Sieges. Also Osten. Benjamin v. Stuckrad-Barre