Die „staatliche Bande“ muß vor Gericht

Ein Autounfall hatte es offenbart: In der Türkei gibt es ein Dreieck Politik-Polizei-Mafia. Dieser Tage legt ein Untersuchungsausschuß des Parlaments seinen Bericht vor – die Staatsanwaltschaft wird Anklage erheben  ■ Von Ömer Erzeren

In den türkischen Medien ist der Ausdruck „Kriminelle Organisation des Staates“ mittlerweile zu einem feststehenden Begriff geworden. Oppositionspolitiker haben ihn sich zu eigen gemacht, und auch bei den Bürgerprotesten für eine „saubere Gesellschaft“ ist immer wieder die Rede von der „staatlichen Bande“. Die Staatsanwälte des Staatssicherheitsgerichtes Istanbul – sie sind zuständig für „Verbrechen gegen den Staat“ – würden sich hüten, solche Ausdrücke zu benutzen – doch genau sie haben jetzt Anklage wegen „Gründung einer kriminellen Organisation“ erhoben.

Das Besondere: Nicht Mitglieder illegaler Kurdenorganisationen oder linksradikaler Gruppen sind angeklagt, sondern Männer, die Spitzenpositionen im Staatsapparat bekleideten: Ibrahim Sahin, einst allmächtiger Chef der für „Terrorismusbekämpfung“ zuständigen Sondereinheiten der Polizei – mithin ein Repräsentant staatlicher Autorität. Korkut Eken, Berater des Ministerpräsidenten, Offizier, zuständig für Operationen im Rahmen des Anti- Guerilla-Kampfes. Hinzu gesellen sich mehrere Polizisten, die in den Sondereinheiten beschäftigt waren.

Auch den ehemaligen Innenminister Mehmet Agar und den Abgeordneten Sedat Bucak – beide gehören der Partei des Rechten Weges an und sind der Parteiführerin und Außenministerin Tansu Çiller treu ergeben – wollen die Staatsanwälte auf der Anklagebank sehen und haben einen Antrag auf Aufhebung ihrer Immunität gestellt. Immer wieder waren Innenminister Mehmet Agar und sein Gefolgsmann Sahin beschuldigt worden, Folterteams zu kommandieren und Morde an politischen Oppositionellen anzuordnen, ohne daß es zu einer Anklageerhebung kam. Der „Kampf gegen den Terrorismus“ legitimierte die politische Rückendeckung.

Dieser Tage legt der parlamentarische Untersuchungsausschuß seinen Abschlußbericht vor. Er bildet unter anderem die Grundlage für die Anklage der Staatsanwaltschaft. Was der Bericht zutage fördert, übersteigt die Phantasie der türkischen Bürger: Raub, Erpressung, nicht politisch motivierte Morde und Heroingeschäfte – begangen von denjenigen, die als Innenminister, Polizeibürokraten oder Offiziere für die Sicherheit der Bürger zuständig sein sollten.

Politik, Polizei und Mafia sitzen im selben Auto

Auslöser für die Enthüllungen im Dreieck Politik-Polizei-Mafia war ein Verkehrsunfall Anfang November nahe der ägäischen Stadt Susurluk, als ein gepanzerter Mercedes-Benz 600 auf auf einen einbiegenden Lastkraftwagen prallte. In der Limousine befanden sich der wegen mehrfachen Mordes und Heroinhandels gesuchte faschistische Attentäter Abdullah Catli, der Polizeifunktionär Hüseyin Kocadag, der Abgeordnete Sedat Bucak und die einstige Miss Türkei, Gonca Us.

Das Wochenende zuvor hatten die vier in der touristischen Stadt Kusadasi Immobilien besichtigt und in einem Hotel verweilt, wo sich auch Innenminister Mehmet Agar aufhielt. Attentäter Catli verfügte über Waffenscheine, Diplomatenpaß und einen Polizeiausweis, ausgestellt von Innenminister Agar. In der Benz-Limousine wurden High-Tech-Schußwaffen mit Schalldämpfern sichergestellt – nach Meinung der Ankläger des Staatssicherheitsgerichts ideale Waffen für Attentate.

Der Kurdenkrieg tarnt die Heroingeschäfte

Noch vor dem Unfall hatten die Medien einen Bericht veröffentlicht, der dem türkischen Geheimdienst MIT zugeschrieben wird. Darin geht es um die Beziehungen jener vier, die in den Lkw gerast waren. Der Bericht beklagt die Gründung einer kriminellen Organisation durch den ehemaligen Polizeipräsident und späteren Innenminister Mehmet Agar. Raub, Erpressung, Rauschgifthandel und Mord gehöre zu den Tätigkeitsfeldern der Bande, in deren Einzugsbereich auch Deutschland, Holland, Belgien, Ungarn und Aserbaidschan gehörten.

Die Mitglieder der Gruppe, die sich aus ehemaligen Angehörigen der faschistischen „Idealistenverbände“ sowie Polizisten und Offizieren zusammensetze, stelle dem Anschein nach eine Sondereinheit gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die linksextreme Dev-Sol dar. In Wirklichkeit gehe es um Anteilskämpfe im Heroingeschäft. Detailliert werden die Morde an den iranischen Rauschgiftdealern Askar Simitko und Lazim Esmaeli und an dem Geheimdienstagenten Tarik Ümit beschrieben. Die Mordbefehle kamen – so die informierten Geheimdienstler – von Innenminister Mehmet Agar.

Auch der parlamentarische Untersuchungsausschuß bekam Ungeheuerliches zu hören. Während der ehemalige Innenminister Mehmet Agar unter Hinweis auf schwebende Gerichtsverfahren die Aussage weitgehend verweigerte („Ein Mann, der für den Staat arbeitet, nimmt seine Geheimnisse mit ins Grab und verpfeift nicht“) und geladene Zeugen wie der Oberkommandierende der Gendarmerie, Teoman Koman, erst gar nicht erschienen, bekriegten sich Spitzenbürokraten des Geheimdienstes MIT sowie der nachrichtendienstlichen Abteilungen von Polizei und Militär gegenseitig. So erzählte etwa Mehmet Eymür, der Abteilungschef Terrorismusbekämpfung des türkischen Geheimdienstes MIT, über die Entführung ihres Mitarbeiters Tarik Ümit: „Ich habe Innenminister Mehmet Agar angerufen: ,Eure Leute haben unseren Freund. Wir möchten ihn lebendig zurück.‘ ,Mach dir keine Sorge. Das erledige ich. Ich ruf Ibrahim [Sahin, Chef der Sondereinheiten der Polizei; Anm. d Red.] an‘, sagte Agar. Als ich keine Nachricht von Agar erhielt, rief ich Sahin selber an: ,Mal sehen, was sich machen läßt‘, sagte er. Dann erfuhr ich, daß Tarik Ümit ermordet worden war.“ In demselben Ton belastete der stellvertretende Leiter der nachrichtendienstlichen Abteilung der Polizei, Hanefi Avci, den militärischen Geheimdienst.

Der Konflikt in Kurdistan, der seit 1984, dem Beginn der bewaffnetten Kämpfe zwischen der kurdischen PKK-Guerilla und der türkischen Armee über 20.000 Menschen das Leben gekostet hat, bildet den Hintergrund für die Herausbildung der „kriminellen Staatsbande“. Neben der regulären Armee, die in den kurdischen Regionen verstärkt worden ist, werden zwei Kräfte eingesetzt, die keiner militärischen Hierarchie unterstehen. Zum einen die sogenannten Dorfschützer – kurdische Stämme, die vom Staat bewaffnet und bezahlt werden, um gegen die PKK zu kämpfen. Der Abgeordnete und Stammesführer Sedat Bucak, der einzige Überlebende des Susurluk-Unfalls, ist ein prominenter Dorfmilizenchef. Zum anderen die Sondereinheiten der Polizei. Zu beiden Kräften gesellen sich Überläufer aus den Reihen der PKK, die als Killer in den Todesschwadronen tätig sind.

Dorfschützer, Sondereinheiten und PKK-Überläufer bilden einen Staat im Staate, der mittlerweile unkontrollierbar geworden ist. Sie sind auch Hauptakteure, wenn es um Mord, Raub, Erpressung, Vergewaltigung und Waffenschmuggel in den kurdischen Regionen geht.

Davon künden selbst die offiziellen Zahlen des Innenministeriums: Über 23.000 Dorfschützer wurden entlassen, weil sie sich straffällig gemacht hatten. In dem Milieu von Sondereinheiten, kurdischen Stammesführern und Ex- PKK-Militanten, die als Todesschwadronen wirken, keimten die Banden, die heute die traditionellen staatlichen Strukturen in ihrem Bestand bedrohen.

Eine in der südöstlichen Stadt Yüksekova wirkende Bande flog auf, nachdem sie den Sohn eines Fabrikbesitzers entführt und umgerechnet 200.000 Mark Lösegeld verlangt hatte. Mitglieder der Bande, der zahlreiche Erpressungen und Morde vorgeworfen werden, waren Anti-Terror-Sondereinheiten, Dorfmilizionäre sowie ein PKK-Überläufer. Zentrale Figur der Bande war der ehemalige PKK-Angehörige Kahraman Bilgic, der von Militärkasernen und Polizeistationen aus Morde inszenierte.

Heroin ist der Schlüssel zu Reichtum und Macht. Europäischen Polizeiexperten zufolge sollen 80 Prozent des in Europa angebotenen Heroins die Türkei passieren. In den vergangenen Jahren wurden die Größen der kurdischen Mafia, die traditionell den Heroinhandel kontrollierten, teils mit der PKK kooperierten und ein bürgerliches Dasein in der Türkei als Geschäftsleute führten, Opfer einer professionellen Killertruppe.

Die staatliche Bande hat die alte Mafia abgelöst

Die jetzt durch Prozesse und die Aussagen in der Susurluk-Untersuchungskommission zum Vorschein gekommenen Tatbestände weisen darauf hin, daß eine „staatliche Bande“, angeführt von den obersten Terroristenbekämpfern im Zusammenspiel mit faschistischen Mordkommandos, wie sie Catli dirigierte, die Geschäfte der alten Mafia übernommen hat. Der Mord an dem Spielcasino-Chef Ömer Lütfü Topal – Sondereinheiten der Polizei sollen den Mord verübt haben und nach kurzzeitiger Festnahme auf Geheiß des Innenministers Agar freigelassen worden sein – spielt eine wichtige Rolle im Susurluk-Skandal. Denn die Spielcasinos sind unersetzlich, um das Heroingeld reinzuwaschen.

Die unglaublichen Enthüllungen von Susurluk wären nicht möglich gewesen, wenn nicht ein Teil des Belastungsmaterials, womöglich aus Kreisen des militärischen Geheimdienstes, den türkischen Medien zugespielt worden wäre. Vieles spricht dafür, daß der „Staat im Staate“, der im Zuge des dreckigen Krieges gegen die PKK entstanden ist, mittlerweile von den Spitzen des türkischen Militärs als Bedrohung empfunden wird. Als im vergangenen Jahr eine dreiköpfige Kommission von sozialdemokratischen Abgeordneten Morde untersuchte, kam sie zu dem Ergebnis, daß der PKK-Überläufer und Killer Kahraman Bilgic und der Bataillonskommandeur gemeinsame Sache machen. Damals konfrontierte der Generalstab die Abgeordneten mit einer Anzeige.

Heute dagegen steht vor dem Staatssicherheitsgericht ein Prozeß gegen die „Bande“ in der kurdischen Stadt Yüksekova an, der neben Sondereinheiten der Polizei und PKK-Überläufern auch Dutzende Offiziere angehört haben. Vier davon sind bereits verhaftet. Wahrscheinlich wird nach den Vorermittlungen auch ein General auf der Anklagebank sitzen. Ohne Erlaubnis des Generalstabs ist ein solcher Prozeß undenkbar. Nach Auffassung des Oberstaatsanwaltes von Diyarbakir, Nihat Cakir, ist der Prozeß von zentraler Bedeutung. „Die Bande von Susurluk ist verglichen mit der Yüksekova- Bande nichts. Der Yüksekova- Prozeß wird die Südost-Politik der Türkei verändern.“

Die eigenen Reihen sollen jetzt gesäubert werden

Konkret hieße das, die Dorfmilizionäre zu entwaffnen und die verrufenen Sondereinheiten der Polizei abzuschaffen, ohne jedoch einen grundlegenden Wandel in der Kurdenpolitik – Dialog mit der kurdischen Opposition – zu suchen. Die Auswüchse sollen bekämpft werden, ohne daß die Ursachen des Konfliktes – der türkische Nationalismus und die Ideologie des kemalistischen Regimes, die den Kurden die eigene kulturelle Identität abspricht – in Frage gestellt werden.

General Teoman Koman, Oberkommandierender der Gendarmerie und Mitglied des Nationalen Sicherheitsrates, ist auch beunruhigt über die Zustände und will die eigenen Reihen von „schwarzen Schafen“ säubern: „Es wird behauptet, daß der Staat rechtswidrige Organisationen gründet. Noch sind wir nicht so schlecht.“ Die Betonung liegt auf dem „noch“.

So verwundert es nicht, daß es ein Geheimdienstmann der Gendarmerie, der Offizier Hüseyin Oguz, war, der vor der parlamentarischen Untersuchungskomission Horrorgeschichten – alle konkret belegt – über das Wirken der Banden erzählte. „Wenn die Teams sagen, daß Sie ein PKK-Sympathisant sind, werden Sie entführt und exekutiert“, klärte er knapp und bündig den Kommissionsvorsitzenden Mehmet Elkatmis auf.

Erst der Verkehrsunfall von Susurluk und der darauffolgende Krieg der staatlichen Apparate hat die türkische Öffentlichkeit für die Schattenseiten des Krieges in Kurdistan sensibilisiert. Die türkische Außenministerin Tansu Çiller versuchte, die Bande politisch zu decken. „Jeder, der für diesen Staat eine Kugel abfeuert oder getötet wird, ist ein Held“, sagte Çiller über den bei dem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Catli. In der öffentlichen Meinung erwies sich das jedoch als politischer Bumerang für die ambitionierte Außenministerin.

Auch die islamistische Wohlfahrtspartei, die aus Rücksicht auf den Koalitionspartner Susurluk herunterspielen wollte – „Nebensächlichkeiten“, sagte Ministerpräsident Erbakan –, verspielte das Vertrauen vieler Wähler, die der Wohlfahrtspartei nicht aus ideologischen Gründen ihre Stimme gegeben hatten, sondern weil sie inmitten der korrupten, bürgerlichen Parteien das moralische Postulat nach einem „sauberen Staat“ verkörperte.

Die kriminelle Bande hat das Verhältnis der türkischen Bürger zum Staat grundlegend verändert. Die großen Medienkonzerne haben dies erkannt. „Der Lastwagen von Susurluk wird alles verändern. Nichts wird sein wie vorher“ lautete die Parole einer mehrwöchigen Werbekampagne der Verleger in den Zeitungen und Zeitschriften, Fernseh- und Radiosendern.