Alles soll sich ändern – irgendwann

Warum es im westafrikanischen Guinea immer noch keinen Strom gibt  ■ Aus Conakry Dietmar Mehrens

Sidya! Sidya!“ rufen ein paar Witzbolde, als im Kino Rogbane in Taouyah mal wieder der Strom ausgeht und alle Kinobesucher in vollendeter Finsternis sitzen, die symptomatisch ist für ein ganzes Land. Taouyah ist ein Randviertel von Conakry, Hauptstadt von Guinea, und Sidya ist der Vorname des Premierministers Sidya Touré, dem das Mißgeschick widerfuhr, den Guineern 24 Stunden Strom am Tag zu versprechen.

Wenn der Strom ausfällt, was er andauernd tut, wirft die privilegierte Elite ihre Generatoren an – also auch das Cinéma Rogbane. Aber das kann schon ein paar Minuten dauern, und dann werden Pfiffe und Rufe laut. Vielleicht gibt es sogar noch eine zweite Unterbrechung im selben Film – dann nämlich, wenn das Elektrizitätswerk den Strom wieder einschaltet. Gerade in der Regenzeit von Mai bis Oktober kann das immer wieder mal vorkommen, da die Staudämme im Binnenland dann über genug Wasser verfügen. In der Trockenzeit ist die Sache viel einfacher: Ein Viertel wie Taouyah bekommt dann im Schnitt nicht mehr als sechs Stunden am Tag zugeteilt, entweder von 18 Uhr bis Mitternacht oder von Mitternacht bis 6 Uhr morgens.

Als der Strom zum Höhepunkt der Regenzeit von 1996 dagegen für fast 20 Stunden am Tag reichte, dachten alle: Sidya sei Dank! Denn vor allem Strom hat Sidya versprochen, Strom für alle, denn alle wollen Strom, 24 Stunden am Tag, damit Conakry endlich den traurigen Ruf als letzte unbeleuchtete Hauptstadt des afrikanischen Kontinents loswerden kann.

Vielleicht ist Garafiri, ein ehrgeiziges Großprojekt am Fluß Konkoure nördlich von Conakry, die Lösung. Garafiri ist ein Symbol gebündelter Hoffnung. Spendenaufrufe, Werbekampagnen und gar eine Zigarettenmarke, die den Namen Garafiri trägt, haben ganz Guinea auf dieses 75-Megawatt- Projekt eingeschworen, das 238 Millionen Dollar kosten soll. Der mit tatkräftiger internationaler und auch deutscher Hilfe zu bauende „Nationalstaudamm“ soll noch vor dem Jahr 2000 fertig sein und das Energieproblem von Conakry auf einen Schlag lösen.

So lange aber richten sich die Erwartungen an Sidya, der binnen kürzester Zeit zu einer der am meisten diskutierten Persönlichkeiten in Guinea geworden ist – diesem Land, das derart unterentwickelt ist, daß man annehmen muß, es hätte jahrelang unter bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen gelitten wie Liberia oder Sierra Leone, obwohl es sich lediglich um die Folgen jahrzehntelanger Mißwirtschaft handelt. Erst kam von 1958 bis 1984 die Diktatur von Sékou Touré, und nach dem Tod des Diktators und dem Amstantritt des noch heute herrschenden Präsidenten General Lansana Conté folgte auf Tourés Familienclan eine Oligarchie von Militärs und ihren Vertrauten, die dem verlockenden Zugriff auf alle Privilegien nicht widerstehen konnten. Zwar kam das Volk in den Genuß demokratischer Rechte und neuer Handelsgüter aus dem Westen, doch die Kehrseite waren immense Korruption, Instabilität, eine Arbeitslosenquote von 60 Prozent und ansteigende Kriminalität.

Im Lauf der Jahre hat es sich bis zu Staatschef Conté herumgesprochen, daß man ihn als Militär, der seine Macht einem Staatsstreich zu verdanken hat, für nicht hinreichend qualifiziert hält, um Guinea effizient zu führen. Immer wieder ist der Ruf nach einem Intellektuellen mit wirtschaftspolitischem Durchblick laut geworden. Denn viele Guineer glauben inzwischen, unter Sékou Touré sei es zwar ruppiger, insgesamt jedoch besser zugegangen. Manchmal entlädt sich die Unzufriedenheit in Streiks und Tumulten. Am 9.April wurde der jüngste Generalstreik aller Lehrenden in Guinea ausgerufen – unbefristet.

Niemand hat die Bilanz des gescheiterten Militärputsches vom Februar 1996 vergessen, als der Volkspalast, Sitz des Parlaments, in Flammen aufging und der Präsident nur unter äußerst glücklichen Umständen ungeschoren davonkam. Etwa 50 Todesopfer gab es, namentlich unter dem Soussou- Volk des Präsidenten, weitverbreitete Plünderungen und einen Schaden von mindestens 62 Millionen Dollar für den Staat – so viel kostete nämlich 1978 der Bau des Volkspalastes, der jetzt nur noch ein trauriges, aber sehr lebendiges Mahnmal abgibt. Danach war jedem klar, daß eine Veränderung kommen mußte.

Immer wieder verweisen Einheimische neidisch auf den östlichen Nachbarn Elfenbeinküste, der, anders als Guinea, bei der Unabhängigkeit den Weg der Anlehnung an Frankreich einschlug, anstatt den Imperialisten abrupt den Rücken zuzukehren. Der Lohn: Die Elfenbeinküste gilt trotz Rückschlägen immer noch als westafrikanisches Wirtschaftswunderland. Ihr Bruttosozialprodukt ist mit 790 Dollar pro Kopf mehr als doppelt so hoch wie das von Guinea (300 Dollar) – dabei hat Guinea die größeren Ressourcen an Bodenschätzen. Der Elfenbeinküste verdankt auch Sidya, Guineas neuer Hoffnungsträger, seinen Ruf. Wie viele Intellektuelle war er vor der Willkür des Touré- Regimes ins Exil geflohen, machte in der Administration der Elfenbeinküste Karriere und brachte es zwischen 1990 und 1993 bis zum Kabinettsleiter des Premierministers Alassane Ouattara.

Seit Juli 1996 ist Sidya nun selbst Premierminister in seinem Heimatland Guinea. Und Sidya, mit dem toten Diktator Touré übrigens nicht verwandt, weiß, wo der Schuh drückt. Ein Staat mit nur 400 Millionen Dollar Jahreseinnahmen – ein Zehntel dessen, was eigentlich der Wirtschaftsleistung nach hereinkommen müßte – kann sich im Prinzip gar nichts leisten, schon gar keine Unruhen. Allein die Hälfte des Etats, so rechnete Justizminister Maurice Togba am 15.Oktober letzten Jahres auf einer Pressekonferenz in der Provinzmetropole N'Zerekore vor, gehe an die 50.000 Beamten und noch einmal fünf Prozent an die 32.000 Pensionäre, von denen es etliche mehrfach geben soll. Eine Überprüfung der Finanzverwaltung in N'Zerekore ergab, daß von den Gehaltsempfängern sechs tot waren, drei längst versetzt, vier im vermutlich unbefristeten Urlaub, acht ohne Grund nicht vorhanden, vier auf nicht absehbare Zeit krank. Gehaltsempfänger der obersten Besoldungsgruppe A sind zahlreicher als die der Besoldungsgruppen B bis E. El Hadj Foumgbe Kourouma, dem ehemaligen Bürgermeister der kleinen Bezirkshauptstadt Beyla – jetzt Attaché bei der guineischen Botschaft in China – werden zusammen mit seinem damaligen Schatzmeister Unterschlagungen von insgesamt 58.990 Dollar zur Last gelegt. Das Geld war bestimmt für den Bau zweier Brücken.

Man langt einfach zu: So wird man reich in Guinea. Und so wird verständlich, wie trotz niedriger Löhne – 200 Dollar im Monat ist bereits ein gutes, 800 ein Spitzengehalt – bestimmte Leute teure Mercedesse fahren, wahre Paläste bewohnen und ihre Sprößlinge im teuren westlichen Ausland studieren lassen können.

So ist der Erwartungsdruck an Sidya hoch. Um die Einnahmeverluste durch Korruption beim Zoll einzudämmen, ist die Schweizer Gesellschaft SGS mit Kontroll- und Sicherungsaufgaben beauftragt worden, und Einfuhrgüter sollen nur noch durch zwei Seehäfen sowie den Flughafen kommen. Mit seinen eigenen Ministern will Sidya Touré leuchtendes Vorbild sein, indem Sonderrechte wie kostenlose Versorgung mit Wasser, Strom, Telefon und Dienstwagen radikal eingeschränkt werden. Das Motto lautet: Kein Wirtschaftsaufschwung ohne Veränderung der Mentalitäten.

Das alles ist freilich leichter gesagt als getan, denn wer auf irgendwelchen Privilegien hockt, gibt die in der Regel nicht kampflos preis. Auf wessen Seite Recht und Gesetz stehen, ist dabei oft eine sekundäre Frage. Was passiert zum Beispiel, wenn ein Protegé des Präsidenten oder gar der Präsident selbst Sonderrechte abtreten soll, die ihm von Rechts wegen gar nicht zustehen? Wunder dauern bekanntlich etwas länger, vor allem in Guinea. Das wird der junge Premierminister, mittlerweile im zehnten Amtsmonat, schon gemerkt haben.

Auch der Wunderstaudamm Garafiri verzögert sich weiter. „Wir sind heilfroh, daß wir unsere Solarzellen nicht verkauft haben, als hier in Conakry 24 Stunden Strom am Tag versprochen wurden“, berichtet eine kanadische Missionarin. Kerzen- und Batterienhändler haben weiterhin gute Umsätze, Diebe können sich freuen, daß es nachts kein Licht gibt. Und im finsteren Kinosaal von Taouyah werden sie wohl wieder ironisch rufen, wenn die Pause zu lang wird, während jemand einen Generator anwirft: „Sidya! Sidya! Komm und rette uns!“