Wahlen unter Kontrolle der Militärs

In Algerien wird zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder ein neues Parlament gewählt. Die Wahllokale werden streng bewacht. In der Hauptstadt ist das Interesse der Bevölkerung gering  ■ Aus Algier Reiner Wandler

Ein herrlicher Ausblick wäre das von der kleinen Treppe neben der Bech-Sherif-Schule, würde nicht der junge Polizist im blauen Kampfanzug mit leichten Bewegungen seiner Maschinenpistole zu verstehen geben: „Zurück in den Schulhof!“ Der Blick über die Mauer sei zu gefährlich, besonders wenn der Besucher, der seine Blicke über die Bucht von Algier schweifen läßt, durch sein blondes Haar schon von weitem als Ausländer zu erkennen sei.

Der Boulevard de la Victoire am oberen Ende der Kasbah, der verwinkelten Altstadt Algiers, gleicht einem Heerlager. Olivgrüne Soldaten und blaue Polizisten schützen die Straße auf der ganzen Länge. Die Grundschule dient heute als Wahlbüro. „Die ersten freien Mehrparteienwahlen des Landes“, heißt es in den Medien. Die Wahlen von 1991, die durch einen Militärputsch abgebrochen wurden, nachdem die Islamistische Heilsfront (FIS) überraschend schon beim ersten Wahlgang nur wenige Punkte unter der absoluten Mehrheit lag, werden nicht mitgezählt.

Ein kleines, von zwei Polizisten bewachtes Tor gibt den Eingang zum Hof frei. Ein alter Mann an einem wackligen Tisch am Eingang klärt die WählerInnen darüber auf, hinter welcher der vier Holztüren sie ihrer Staatsbürgerpflicht nachkommen können: Männlein links, Weiblein rechts. Viel Arbeit hat der Alte nicht. Die WählerInnen tröpfeln um zehn Uhr, zwei Stunden nach der Öffnung der Wahllokale, nur spärlich ein. Die meisten sind im Rentenalter. Jedesmal, wenn jemand eine Frage zur schriftlichen Wahlvorladung hat, schaut der Alte hilflos auf den Zettel, richtig rum, falsch rum, es hilft alles nichts, er muß den Chef des Wahllokals und Direktor der Schule rufen, der ist im Gegensatz zu seinem Gehilfen und vielen WählerInnen des Lesens mächtig. Auf die Frage über die Wahlbeteiligung gesteht der smarte Mitvierziger zögernd ein, daß er sie sich besser vorgestellt hat. Nein, genaue Zahlen könne er nicht nennen, aber so um halb elf ginge der große Ansturm los. „Warum soll ich wählen gehen? Was mir fehlt, sind Friede, Arbeit und Wohnung“, erklärt einer der jungen Männer, die schräg gegenüber des Wahllokals gelangweilt an einer der halbzerfallenen Häuserfassaden lehnen, warum die Wählerscharen nicht strömen wollen. Dann fügt er den Satz hinzu, den man dieser Tage überall in Algier, vor allem in den armen Stadtteilen, hört: „Es ist eh klar, wer gewinnt, die Partei von Zeroual“ – des Präsidenten, der eigens für diese Wahl die Nationaldemokratische Versammlung (RND) unter Abdelkader Bensalah neu gründen ließ. Bensalah ist Präsident des von den Militärs nach dem Putsch 1992 eingesetzten Übergangsparlaments. Gespannt sei man sowieso nur auf die Zahl der offiziell anerkannten Stimmen für die zweite Kraft, die gemäßigte islamistische Bewegung für eine Gesellschaft der Friedens.

Plötzlich bricht der junge Mann seine Wahlprognosse ab. Einer seiner scheuen Seitenblicke ist auf einen Altersgenossen gefallen. Gepflegter schwarzer Anzug, Beule auf Hüfthöhe und dunkle Sonnenbrille lassen nur unschwer erahnen, was dieser hier macht.

Die Kasbah war einst Hochburg der FIS und ist heute Rückzugsgebiet der radikalen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) in der Hauptstadt. Am Montag explodierte eine Bombe auf einem Markt. Die Ruine des Hotels England, wo ein Anschlag im letzten Sommer ein Massaker unter den dort untergebrachten Soldaten anrichtete, steht gleich am Anfang der steilen Zufahrtsstraße zur Altstadt. Im Gefängnis am Ende des Boulevards kam es zu einer gescheiterten Massenflucht, bei der das Militär über hundert inhaftierte Islamisten erschoß, und vor dem Gymnasium Emir Abdelkhader, das heute ebenfalls als Wahllokal dient, fanden eines Morgens zehn Schüler durch eine Paketbombe den Tod.

Auch hier will sich der Ansturm der Wähler nicht einstellen. Die an den verschiedenen Wahltischen bereitwillig zur Verfügung gestellten Zahlen beweisen dies. Elf Uhr: 26 abgegebene Stimmen von 360 Wahlberechtigten, 14 von 406, 10 von 345 und 6 von 196. „Das hier ist ein Frauenlokal, die sind noch bei der Hausarbeit“, entschuldigt sich die Büroleiterin, leicht verlegen. Auf Nachfrage gibt sie dann zu, daß die Beteiligung deutlich unter der bei den Präsidentschaftswahlen von 1995 liegt.