Die Stadt ist das große Altersheim der Zukunft

■ Ab 2000 werden nur noch alte und verwaiste Menschen die Städte bevölkern

Hamburg (taz) – In zehn Jahren werden unsere Städte leer sein. Ihre BewohnerInnen überaltert und einsam. So lautet die Prognose von Herwig Birg vom Institut für Bevölkerungsentwicklung der Universität Bielefeld. Er erwartet einen „Wendepunkt in der Bevölkerungsentwicklung zwischen 2005 und 2010“.

Selbst eine höhere Geburtenrate unter AusländerInnen wird die Entvölkerung nicht aufhalten können, ebensowenig wie eine vermehrte Zuwanderung aus dem Ausland. Deshalb fordern Städtevertreter auf dem Deutschen Städtetag eine kinder- und familienfreundliche Politik, um die Geburtenrate in Deutschland zu steigern. Die Organisation vertritt mehr als 6.000 Kommunen. Bis zum Jahr 2010, so Birg, wird die Zahl der über 60jährigen um dreißig Prozent ansteigen, die Zahl der „jüngeren Erwerbspersonen“ – Beschäftigte zwischen 20 und 45 Jahren – hingegen um fast zehn Prozent abnehmen. Die Ursachen: eine seit den siebziger Jahren niedrige Geburtenrate sowie die steigende Lebenserwartung. In der Folge steigt der Anteil der alten Menschen, vor allem in den Städten. Hier sind die Geburtenraten noch niedriger als auf dem Land, hinzu kommt die „aktive Alterung“: junge Menschen ziehen aufs Land, ältere gehen in die Stadt. Der Statistiker beruft sich auf eine Bilanz aus Sterbefällen und Geburten. Das Ergebnis: Deutsche Staatsangehörige haben zur Zeit ein jährliches „Geburtendefizit“ von 200.000. AusländerInnen haben dank höherer Geburtenrate einen „Geburtenüberschuß“ von jährlich 100.000. Zusammen mit den jährlich etwa 400.000 Zuwanderern bewahren sie unsere Gesellschaft vor dem Schrumpfen.

Die Stadt um die Jahrtausendwende spaltet sich laut Birg „in zwei völlig unterschiedliche Bevölkerungsgruppen: in Haushalte mit Kindern und in Haushalte ohne Kinder“. In Heidelberg etwa leben bereits heute in 82 Prozent aller Haushalte keine Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahre. Die Vertreter des Deutschen Städtetages fordern unisono eine kinder- und familienfreundliche Politik, um die Stadtgesellschaften vor der prognostizierten Spaltung zu schützen. Die Liste der angesprochen Maßnahmen ist lang: mehr kindgerechte Wohnungen, verbilligte Baugrundstücke für Familien, kinderfreundliche Verkehrsplanung und eine verbesserte SchülerInnenbetreuung.

Für Leipzigs Oberbürgermeister Hinrich Lehman-Grube ist klar: „Solange in Deutschland das Aufziehen von Kindern mit schweren materiellen Nachteilen verbunden ist, wird sich an dem Problem der Bevölkerungsentwicklung nichts ändern.“ Wie sie die Maßnahmen finanzieren wollen, debattierten die Städtevertreter angesichts der leeren Kassen lieber nicht. Resigniert meint Lehman- Grube: „Die städtische Handlungsfähigkeit ist nicht mehr gewährleistet.“ Achim Fischer