„Das wäre pervers“

Ist der Holocaust ein Thema für Kindergarten und Grundschule? Diese Frage löst unter Eltern und Pädagogen Kontroversen aus  ■ Von Karin Flothmann

Der Holocaust – ein Thema für den Kindergarten? „Das ist doch absolut grausam!“Anita K., Mutter eines heute 18jährigen Sohnes, ist empört. Als Historikerin und Journalistin hat sie sich intensiv mit der Vernichtungsmaschinerie des Hitler-Regimes auseinandergesetzt. Kindern, so ihre feste Überzeugung, könne man das auf keinen Fall zumuten. „Das wäre pervers!“

Batsheva Dagan, eine Überlebende des Holocaust, ist da anderer Meinung. Die Psychologin, die heute in Israel lebt und arbeitet, meint, auch mit Dreijährigen könne und müsse schon über die Shoah gesprochen werden. Immerhin würden die Kinder in Israel oft damit konfrontiert, ob im Fernsehen oder in der eigenen Familie.

Ein Thema, das Kontroversen provoziert. Kontrovers wird es daher auch am kommenden Wochenende im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Uni Hamburg zugehen. „Holocaust – ein Thema für Kindergarten und Grundschule?“lautet die Frage, der sich erstmals eine internationale Tagung widmen wird. Basheva Dagan ist nur eine von 15 ReferentInnen, die ErzieherInnen, LehrerInnen, Eltern und WissenschaftlerInnen über Projekte aus Israel, den Niederlanden, Japan, den USA und Deutschland berichten werden.

„Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“, schrieb Theodor W. Adorno 1966. Da sich Charaktere schon in der frühen Kindheit bildeten, so Adorno weiter, müsse sich „Erziehung, welche die Wiederholung verhindern will, auf die frühe Kindheit konzentrieren“. Daß es dabei nicht darum gehen kann, Kindern Fotos von Leichenbergen zu zeigen, darüber sind sich PädagogInnen aus aller Welt einig. Im Vordergrund müsse zunächst „das Verständnis für und die Solidarität mit den Opfern“stehen, fordert daher die Frankfurter Erziehungswissenschaftlerin Gertrud Beck. Dabei „hilft es Kindern, wenn sie sich mit Menschen identifizieren können, die überlebt haben“.

Im Vordergrund der pädagogischen Arbeit mit Kindern stehen daher oft Geschichten und Bilderbücher. Mitte der 80er Jahre veröffentlichten MitarbeiterInnen des Hamburger Kinderhauses in der Heinrichstraße zum Beispiel „Das Kind im Koffer“, ein Bilderbuch, das sich an dem Roman „Nackt unter Wölfen“von Bruno Apitz orientiert. Erzählt wird die Geschichte eines dreijährigen Jungen, der unentdeckt in einem Koffer ins Konzentrationslager Buchenwald kommt. Drei Häftlinge versuchen, das Kind im Lager vor den Nazi-Schergen zu verstecken. Alle drei sind zugleich Mitorganisatoren der Lagerbefreiung. Diese gelingt, und die Geschichte nimmt ein gutes Ende – auch der Junge ist gerettet.

Vor zehn Jahren wurde dieses Buch im Kinderhaus noch oft vorgelesen, weiß Bernhard Schwarze, inzwischen Leiter des Kinderhauses in der Wohlers Allee. Heute liege es zwar aus, aber die Kinder im Haus seien derzeit zwischen zwei und drei Jahren alt, das sei noch zu jung.

Vor gut zehn Jahren besuchte auch Schwarzes Tochter das Kinderhaus in der Heinrichstraße. Damals stieß die Sechsjährige zusammen mit anderen Kindern auf dem Friedhof in Ohlsdorf zufällig auf das Grab eines achtjährigen jüdischen Mädchens. Der Forschertrieb war geweckt: Die Kinder wollten herausfinden, wer diese Tote war und wie sie starb. Mit Hilfe der ErzieherInnen nahmen sie Kontakt zu Überlebenden auf. Eine Zeitung über das Mädchen, das in einem KZ ermordet worden war, entstand. Einige Kinder fragten ihre Großeltern, wo sie während der Nazi-Zeit gestanden hätten. „Damals wurde Friedenserziehung noch groß geschrieben“, sagt Schwarze. Heute sei das anders, aus überwiegend alternativ angehauchten Eltern sei eine Elternmischung aus allen Schichten geworden. Die Vorbehalte seien größer.

Auch Helga Koppelmann redet im Unterricht nicht über den Holocaust. Die Lehrerin arbeitet in einer Grundschule in Dulsberg. Der Ausländeranteil unter den SchülerInnen ist hoch. Behinderte und nicht-behinderte Kinder lernen gemeinsam. Das Fremde, so Koppelmann, stehe da täglich auf dem Programm, etwa wenn es um die Frage gehe: Warum kann Sabine nicht schreiben? Ist die doof? „Wir haben so viele Anlässe, über Andersartigkeit und Diskriminierung zu sprechen, da braucht es nicht gleich den Holocaust.“

Anders Gisela Wiese: „Kinder sehen heute schon wieder Hakenkreuze, die an Kirchen geschmiert werden. Das kann ich doch zum Anlaß nehmen, ihnen von damals zu erzählen.“Rund 50 Jahre lang arbeitete die heutige Vizepräsidentin von Pax Christi als Erzieherin in Hamburger Kindergärten. Sie ist davon überzeugt, daß schon Kita-Kinder an gesellschaftliche Ereignisse und damit auch an den Holocaust herangeführt werden sollten.

„Manchmal reicht es doch schon, den Kindern zu erzählen, daß da Menschen kamen, die die Familien auseinandergerissen und den Kindern das Spielzeug weggenommen haben.“Aus eigener Erfahrung weiß Wiese: „Das erzeugt schon genug Empörung.“Natürlich dürften Kinder dabei nicht mit grausamen Ereignissen überfrachtet werden. Wichtig sei vor allem „immer ein Funken Hoffnung“.