Damals, in der Obstkiste

■ Zwölf Quadratmeter Berlin. Impressionen aus einem Leben vor unserer Zeit

Was waren sie verliebt. So sehr, daß sie Platz auf einem Wandklappbett fanden. Das hatte er aus seinen Kindertagen herübergerettet. In der Breite maß es knapp einen Meter. Der Hohlraum zwischen Wand und Klappbett war mit Kissen verfüllt und ein paar Zentimeter Liegefläche gutgemacht worden. Hier lasen sie Orwells „Farm der Tiere“, gemeinsam und aus einem Buch, das die Schwester aus dem Westen irgendwann geschickt ...

Die Nachbarin war eine hellhörige Person. Die hämmerte an die Wand, wenn die beiden ihre Stones-Platte auflegten, wenn Freunde kamen oder die „Tagesschau“ lief. Im Gegenzug betrank sich die Frau dafür jedes Jahr zur Maiparade. Laut und falsch sang sie dann zur Marschmusik aus dem Fernseher mit: „Brüder zur Sonne zur Freiheit.“ Sie mußten sich auf ihrem Klappbett wahrscheinlich auch sehr leise lieben.

Die Bücher in ihrem 12-Quadratmeter-Wohnschlafundarbeitszimmer waren an der Wand gestapelt. Holz für Regale war sehr knapp in diesem Leben. Einmal hatte er von einem Freund ein paar Hartfaserplatten geschenkt bekommen und daraus Ablagen für die „Gesammelten Werke“ gezimmert. Doch das Regal zerbrach unter der Last von Marx und Lenin. Sie haben gelacht. Sie haben über ihre „Obstkiste“ gespottet, und sie haben sie geliebt. Auch als einige Zeit später noch Raum für ein Kinderbett gebraucht wurde. Das Klappbett wurde geopfert, eine Liege für zwei unters Fenster geschoben. Auf dem Schreibtisch quakte es fortan jeden Abend vergnügt in der Babybadewanne. „Tagesschau“ und Freunde wurden in die Küche verlegt. Besucher, die auch weiterhin oft und oft unverhofft kamen und bis spät in die Nacht blieben, schliefen auf einer Luftmatratze neben dem Herd.

Vielleicht wäre es noch eine Weile so gegangen. Doch brave Staatsbürger erhielten manchmal, in Verbindung mit gewissen Feiertagen oder Wahlen, eine Wohnungszuweisung. Als die beiden das sonnenüberflutete Zimmer erblickten, als sie im Schlafzimmer mit den riesigen Flügeltüren standen, konnten sie nicht widerstehen. „Die nehmen wir“, sagten sie wie aus einem Mund. In den folgenden Wochen kamen die Freunde seltener. Sie waren auf Versammlungen unterwegs, gingen in Kirchen. Am 7. Oktober 1989 demonstrierten sie unter dem Fenster ihrer neuen Wohnung. „Kommt runter, lauft mit“, haben sie gerufen. Doch die beiden lachten: „Wir tapezieren gerade die Decke.“ Vielleicht würden sie heute, da sie sich eingerichtet haben, mitgehen, wenn Freunde zur Demo rufen. Vielleicht lieben sie sich noch immer. „Über uns sind zwei Studenten eingezogen“, hat sie letztens erzählt. „Mehr als 100 Quadratmeter für zwei ganz junge Leute. Wahnsinn.“ Kathi Seefeld