Die Schrippe als Welt und Wille

Kollektives Hauptstadtprojekt contra Lebensgefühl: Berlin wäre längst eine Metropole, müßten sich die Bewohner dies nicht Tag für Tag zwanghaft durch Ausländerzählungen und Phonokinese beweisen. Nur noch zu Besuch kommt  ■ Christian Arns

Nein, ich werde nicht über Hundehaufen schreiben, nur weil ich nach Berlin zurückblicke. Schließlich ist es auch ein verhältnismäßig natürliches Geschäft, den dampfenden Haufen taktisch geschickt auf dem Fußweg abzulegen. Und Natürlichkeit ist genau das, was dieser Stadt ansonsten so dringend fehlt. Ganz zu schweigen von Gelassenheit, die es den Menschen erlaubte, anstehende Probleme schlichtweg anzupacken, statt sie hektisch als Krise zu bezeichnen und sie unter Zuhilfenahme aller zur Verfügung stehenden Kraftausdrücke und Superlative dem aktuell ausgemachten Gegner vorzuwerfen. Das sichert der Stadt eine allgegenwärtige Stagnation, die bislang verhindern konnte, daß sich Berlin zur Metropole entwickelt – den Bewohnern sichert es die tägliche schlechte Laune.

Der Tag beginnt schon garstig. Die ersten Stunden in Berlin habe ich noch geglaubt, der Begriff „Schrippen“ sei ein weiteres Beispiel für die komische Sprache der Menschen hier, dabei haben die spröde berstenden Klumpen den Namen Brötchen nur nicht verdient. Die Backindustrie hat das Lebensgefühl aufgegriffen und stellt konsequent Produkte her, die beim besten Willen niemandem schmecken können, weder Brot noch Kuchen, schon gar keine Torten – letztlich schmeckt alles nach Schrippen: Butterstreuselschrippen, original Sacher-Schrippen, Schwarzwälder-Kirsch-Schrippen. Systematisch wird der Gefahr von guter Laune vorgebeugt, denn ein gemütliches Frühstück wäre ein genußvoller Start in einen Tag, der vielleicht Erfreuliches bringen könnte.

Sicherheitshalber können die Berliner auch nicht brauen. Kaum ein Bier schmeckt fader und überflüssiger als die Berliner Traditionsmarken. Das Lebensgefühl entspricht dem der Akkordarbeit auf einer Großbaustelle, weswegen „Schullis“ Sixpack-Siegeszug auf Baugerüsten so ungebrochen ist wie in den zahllosen Eckkneipen, in denen es keine Wirte, sondern nur Bierverkäufer gibt.

Was Berliner auch besonders gut gar nicht können, ist autofahren. Nirgends ist es ein so unvermeidliches Muß für Linksabbieger, zum Ende einer Ampelphase doch noch bis zur Mitte der verstopften Kreuzung vorzufahren. So gelingt es in kürzester Zeit, die Kreuzung endgültig lahmzulegen. Danach beweisen die Berliner verbittert hupend ihren unerschütterlichen Glauben in die Phonokinese – Bewegung durch Lärm. Nachzugeben ist natürlich streng verboten, hier ist jeder im verbissenen Kampf gegen jeden. Läßt einer den anderen doch einmal unerwartet vor, dann wird die Hand natürlich nicht zum Dank gehoben. Diese simple Geste des Miteinanders ist überall üblich oder wenigstens bekannt – aber doch nicht in Berlin.

Bei so vielen objektiven Möglichkeiten einer Stadt und so wenig Lebensgefühl ihrer Bewohner wird um so trotziger der immer gleiche Satz mit verkrampfter Inbrunst hervorgepreßt: „Anderswo könnte ich gar nicht mehr leben.“ Es ist die Losung einer vage verbundenen Gemeinschaft Zugereister, die dies auch in Berlin nicht beherrscht. Statt zu leben hetzen sie umher, kaschieren die fehlende Gelassenheit mit dem Deckmäntelchen irgendeines „Projekts“. In einem Projekt sollte man in Berlin schon sein: Zum einen gehört es sich so, zum anderen vertuscht es, daß die Sache mit dem Leben immer noch nicht so gut klappt.

Daß ich im Wedding zeitweilig mit meinem türkischen Nachbarn auf dem kleinen Fußballplatz im Hinterhof bolzte, kam an der Uni und im Job bei vielen gut an. Sie glaubten, es sei ein multikulturelles Fußballprojekt gegen Fremdenfeindlichkeit. War es aber nicht. Es waren einfach nur Fußballspiele. Einziges Ziel: viele Tore. So einfach, das.

Diese oder jene Kneipe sei besonders tolerant, wurde mir zugetragen. Unter den Stammgästen seien sechs Ausländer. Aha. Da hatte ich Toleranz bislang also doch nicht recht verstanden, hatte ich doch in meiner Kölner Stammkneipe stets vergessen, die Ausländer unter meinen Thekenfreunden zu zählen. Aber die waren ja auch in keinem Projekt.

In einem Berliner Projekt ist man üblicherweise gegen etwas: gegen rechts sowieso, am besten auch noch gegen die militante Autolobby oder gegen sonst eine zumindest faschistische Gruppe, die ihrerseits gegen die stalinistischen Chaoten kämpft. Als Visionär gilt in Berlin, wer schon gegen etwas ist, was sich als Problem noch gar nicht stellt. Das Abgeordnetenhaus hat diese Einstellung in bemerkenswerter Volksnähe übernommen und ist vor allem auch dagegen. Vielleicht ist das aber ganz gut so, denn mir persönlich graust bei der Vorstellung, daß sich Frau Stiepgen oder Herr Dahmer mit einemmal für etwas aussprächen. Berlin würde einen solch fundamentalen Wandel kaum verkraften, denn hier ist es üblich, stets zu reagieren, sämtlichen Ereignissen hinterherzujagen, was auch das völlig nutzlose Tempo und die Gereiztheit der Eilenden erklärt.

Fällt eigentlich jemandem etwas ein, das in Berlin erfunden worden wäre? Na? Die Currywurst! Mich wundert das nicht.

Der Autor stammt aus Köln, hat unter anderem fünf Jahre in Berlin gewohnt und lebt nun in Magdeburg. Der neue Wohnort ist nicht der Hit, zugegeben – aber das behauptet dort auch niemand.