Jerusalem „wiedervereinigt“?

■ Kleine Polemik zu einigen dubiosen Kundgebungen jüdischer Gemeinden in deutschen Großstädten, in denen der arabische Teil Jerusalems nicht vorkommt

Im Jahr 1866 wurde die Neue Synagoge, deren Kuppel Berlin- Mitte noch immer überragt, mit preußischem Pomp eröffnet. Die deutschen Juden waren damals auf dem besten Weg, Salz der preußischen Erde zu werden – wenigstens was ihr eigenes Selbstbild anging. Im Ersten Weltkrieg waren sie schon soweit: Prozentual gesehen errangen sie mehr Tapferkeitsmedaillen als Christen.

Nach Shoa und Zweitem Weltkrieg kam zur Schizophrenie des Lebens unter dem Volk der Täter eine Paria-Stellung in der jüdischen Welt, denn Juden in Deutschland gelten als der Bodensatz in der weltweiten Hierarchie der Jüdischen Gemeinden. Daher gilt für deutsche Juden die Unterstützung Israels als Garant für den Aufbau einer eigenen positiven Identität – auch als Gegengewicht zum Vorwurf, man sei aus rein materiellen Gründen in Deutschland geblieben. So wundert es einen nicht, daß der bundesweite jüdische Studentenverband – sonst kaum bekannt für revolutionäre Initiativen – den Tag der Eroberung Ostjerusalems im Sechstagekrieg am 15. Juni 1967 in der zu diesem Zweck gesperrten Oranienburger Straße in der Form eines Volksfestes feiern will.

Ja, ja, es ist schon lange her, daß hier nationale Eroberungen gefeiert wurden. Aber bei Juden – sowohl was Selbstbild als auch was das Image betrifft (Schirmherr ist der Regierende Bürgermeister Diepgen) – macht man eine Ausnahme. Schließlich sind sie Opfer.

Deutschland stimmte als einziges europäisches Land nicht gegen Israel, als es um die sogenannte Har-Homa-Siedlung ging, und verhindert eine konstruktive europäische Nahost-Politik, auf die auch die israelische Linke wartet; so war Berlin die einzige Stadt der Welt (inklusive Tel Aviv!), die die Feierlichkeiten zu dem 3.000jährigen Jubiläum der angeblichen Eroberung (Amtssprache: Befreiung) Jerusalems durch den biblischen König David mitfeierte.

Es ist traurig zu sehen, daß das „Gedächtnis-Theater“ in bezug auf die Juden solche Früchte trägt. Gerade in Berlin sollte doch verstanden werden, daß die Vereinigung Berlins mit der Jerusalems nichts gemein hat.

Das vereinte Jerusalem ist eine praktisch sauber durchtrennte Stadt – mit einer (christlichen und muslimischen) arabischen Bevölkerung in Ostjerusalem, die in den letzten 30 Jahren kaum eine Baugenehmigung für die wachsende Bevölkerung erhielt und die beim Verlassen der Stadt für ein paar Jahre kein Recht auf erneute Ansiedlung dort hat – und einer jüdischen Bevölkerung im Westteil, die langsam, aber sicher die nichtjüdischen Bewohner der Stadt verdrängt und mit Hilfe von Siedlungen in einer U-Form von der restlichen Westbank abschneidet. Wissend, daß die westliche Welt (vor allem das amerikanische und das deutsche Bürgertum) diese Annektierungsgelüste aus historischen Gründen mit anderen Maßstäben als sonst mißt, spielen die Israelis die immerwährende Opferkarte.

Das Osloer Abkommen sieht dem Sinn nach vor, an Jerusalem so lange nichts mehr zu verändern, bis eine Lösung – zum Beispiel geteilte Souveränität – gefunden ist. Israels jetzige Regierung versucht, mittels einer eigenartigen Geschichtsschreibung, Jerusalem für sich zu beanspruchen, so zu tun, als sei es schon immer jüdisch gewesen und hätte nicht eine Eroberung, sondern eine „Wiedervereinigung“ erlebt. Was wäre da passender, als ein „friedliches Fest“ mit guter, jüdischer Folklore in der aufgemotzten Toleranzmeile Berlins, der Oranienburger Straße? Tsafrir Cohen