■ Nach Blairs und Jospins Siegen fragt sich: Steht Europa vor einer Renaissance der Linken? Wenn ja, was will sie?
: Ein scheues kleines Gespenst

Ein scheues kleines Gespenst weht durch Europa. Es weiß über sich selber noch nicht recht Bescheid, und es wird vor allem von denen identifiziert, die ihm nicht gerade wohlgesonnen sind: „Die Linke ist wieder da“ oder gar „Sozialdemokratische Dominanz in Europa“. Eine Spekulation der Medien – oder doch etwas mehr?

Vor sechs Wochen jedenfalls wäre niemand darauf gekommen, eher das Gegenteil war vorauszusehen. Und die Schlagzeilen hätten noch, wie seit Jahren, so gelautet: „Europas Linke ohne Kompaß“ oder „Abschied von der Sozialdemokratie“. Denn eben diesen endgültigen Abschied schien Tony Blairs Programmlosigkeit, die offensichtlich das Geheimnis seines allerorten erwarteten Sieges ausmachte, zu verkünden. Und ebenso offensichtlich stand die französische Parti Socialiste, von der Parlamentsauflösung durch Chirac auf kaltem Fuße erwischt, ohne jede eigene Idee da, ohne Kraft und Kampfmoral. Die gauche plurielle, die „Multilinke“, die nach neuester Sprachregelung den Sieg über den Chiracismus errungen hat, war damals noch nicht einmal dem Wort nach bekannt.

Der zufälligen Gleichzeitigkeit der beiden Wahlsiege hilft manch anderes nach. Die konservativen Wahlverlierer in Großbritannien und Frankreich, deren Zusammenhalt wie bei allen Rechten auf geteiltem Ämterbesitz beruht, stürzten sich bereits wenige Stunden nach ihrer Niederlage in selbstzerfleischende Kämpfe um Parteiposten und Kandidaturen auf künftige Machtrollen – ein abstoßendes Bild. Vor ihm können die pragmatischen und um Bescheidenheit bemühten Sieger in linker Tugendhaftigkeit glänzen.

In den dröhnenden Untergang der Konservativen läßt sich gleich auch Kanzler Kohl einschließen. Major verschwunden, Chirac als tölpelhafter Politkomödiant blamiert, da ist Kohl auf einmal „isoliert“ und auf der Verliererstraße der Alten. Selbst die SPD wird in die Linksprojektion eingereiht, obgleich kaum der Hauch eines Grundes dafür besteht. Eine Partei, die auf Gerhard Schröder setzt, den allzu wendigen Sprecher der angstkonservativen Arbeitsbesitzer der Mittelschichten, ist immun gegen jede linke Versuchung. Macht nichts, als Blair-Imitator darf er die deutsche New Labour repräsentieren.

Zugute kommt dem neuesten Linksgerücht auch, daß die heftigen Wehen, die nun vor der Euro- Geburt eingesetzt haben, in diesen Monaten fast nur die Konservativen beuteln. Vor allem Kohls monetaristische Orthodoxie ist kurzatmig geworden. Und wenn man sich, statt jetzt etwas lockerzulassen, erst recht in die Konvergenzkriterien verkrallt, wird man um so sicherer die Krise auslösen und die europäischen Termine verspielen. Da kann die Linke, euro- und europatreu, eine gute Figur machen; denn nun sind es die globalisierungstrunkenen Ultraliberalen, die das Interesse der Gemeinschaft mißachten. Dabei ist schnell vergessen, daß es neben Kohl die Sozialisten Mitterrand und Delors waren, die zur strikten Euro-Disziplin anhielten – was ihr Land einen hohen sozialen Preis gekostet hat.

Das Wunschbild einer erneuerten Sozialdemokratie in Europa ist aus allerlei Unvereinbarem zusammengebraut, vor allem aus Zufällen und Vergeßlichkeiten. Sind New Labour und die gauche plurielle erst einmal zwei Jahre im Amt und mag sich dann auch die SPD dazugesellen, so wird sich zeigen, wie schmal die sozialdemokratischen Gemeinsamkeiten sind. Jedes Land muß auf seine eigene Weise Arbeitslosigkeit und zunehmende Ungleichheit bekämpfen, oft in harter Konkurrenz mit den anderen. Und wenn Lionel Jospin und ebenso Tony Blair bald von der Einsicht geplagt werden dürften, daß ihre nationalen Atomwaffen nur unpraktisch und viel zu teuer sind, so können sie sie doch nicht in gemeinsamer Aktion abschaffen. Dazu müßten sie nämlich von einem politischen Projekt für Europa getragen sein, und das haben sie nicht. Mögen die Führer der europäischen Sozialdemokratien sich gut verständigen können, so doch kaum in sozialdemokratischem, gar linkem Geist.

So dürfen wir also wirklich nicht hoffen? Bezeichnet das große Wählervertrauen für die Linksparteien nicht mehr als bloßen Widerwillen gegen die verkommene Rechte, nämlich einen Überschuß an Erwartungen auf Reform und neue politische Moral? Sind in der Allherrschaft des Marktglaubens, der sich die Europäer aller Sozialgruppen seit den 80er Jahren ziemlich überzeugt hingegeben haben, nicht überall Risse aufgetreten, die nun auch bemerkt werden? Und mag es auch an der Fähigkeit und an der Kraft zur Assoziation fehlen, die zur Repolitisierung der erschöpften Sozialdemokratien vonnöten wäre: Darf man nicht, angesichts einer einmaligen, glücklichen Konstellation, auf die Auslösung politischer Impulse setzen, die sich selbst verstärken und aus der Lähmung heraustreiben? Wäre nicht die allzu kluge Knebelung von Hoffnung und Risikobereitschaft ein Defätismus, der die Lage nicht erkennen will?

In der Tat. Zur Zuversicht besteht Anlaß, wenn auch nicht zur Hoffnung nach bisheriger sozialistischer Art. Die europäischen Dinge, getrieben auch durch die Globalisierung, sind in so schnellen Fluß geraten, daß es den liberalen Marktorthodoxen nun doch die Sprache verschlägt. Vor allem die Deutschen, von der eigenen Grundsätzlichkeit betäubt, taumeln politisch hilflos durch ein Europa, das sich auf weitere und noch schmerzhaftere Umwälzungen einstellt. Andererseits wird in wenigen Jahren der Euro die zweite große Reservewährung der Welt sein, von gleich zu gleich konkurrierend mit dem Dollar. Markteuropa erwirbt sich damit eine Souveränität, die es eigentlich gar nicht haben wollte und die ihm beschwerlich erscheint. Das nächste Jahrzehnt wird also von zunehmenden Umverteilungskämpfen innerhalb der Nationen und ebenso innerhalb der Nationengemeinschaft der Europäer erfüllt sein. Zugleich werden sich die Wirtschaftskriege verstärken. Angesichts dessen verfügen heute weder die Konservativen noch die Sozialdemokratien über eine politische Perspektive. Doch die letzteren verfügen immerhin über einen Realitätssinn und eine Empfindlichkeit für praktische Solidaritäten, an denen es dem in Ideologie erstarrten Liberalkonservatismus fehlt. Das alles ist noch längst nicht wieder Links, wird es wohl auch nicht mehr werden. Aber es enthält die Chance, Europa mit politischen Augen zu sehen, nicht nur durch den Vorhang der leeren Marktzukunft. Wer unbedingt Hoffnung braucht – fürs erste sollte das ausreichen. Claus Koch