Bertis Traum von Matthäus

Ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben des deutschen Bundestrainers: Das streng geheime Tagebuch des Berti Vogts, Folge 37: Ukraine – Deutschland 0:0  ■ Von Matti Lieske

Kiew, 7. Juni: Liebes Tagebuch! Schon als ich morgens aufwache, merke ich, dies ist nicht mein Tag. Was tue ich eigentlich hier? frage ich mich. Könnte ich nicht wesentlich sinnvollere Dinge bewirken, als ein paar unreifen Kerlen in kurzen Hosen beizubringen, wie man vernünftigen, offensiven, zauberhaften Fußball spielt, wo ich doch sowieso weiß, daß sie es nie im Leben begreifen. Ich könnte zum Beispiel schön im Grünen sitzen und meine Gartenzwerge zählen, könnte in die Arktis fahren, Eskimos beobachten, oder in Sibirien Bären züchten. Die Welt steht mir offen, und ich habe nur die Weltmeisterschaft im Kopf. Ekelhaft.

Apropos Bären. Wahrscheinlich hängt meine düstere Stimmung mit diesem blöden Traum zusammen, den ich letzte Nacht hatte. Ich saß auf einem Baum, weil mich ein Grizzly verfolgt hatte, und Grizzlies könne ja bekanntlich nicht klettern, wie ich als langjähriger Bärenbeobachter weiß. Als das Vieh jedoch unten angekommen war, verwandelte es sich plötzlich in Lothar Matthäus. Der kletterte zu mir hoch und schrie immer: „Wenn du mich nicht mit zur WM nimmst, fresse ich Klinsi!“ Dann bin ich zum Glück aufgewacht, schweißgebadet. Vor Schreck hatte ich die ganze Taktik für das Ukraine-Spiel vergessen. Hoffentlich hat's keiner gemerkt.

Vorher hatte ich ja ständig erzählt, daß wir unbedingt gewinnen müssen, damit wir uns vorzeitig für die WM qualifizieren und nächstes Jahr in Frankreich die schönsten Hotels bekommen. Nach dem 0:0 war es dann gar nicht so leicht, die Sache runterzuspielen und Zuversicht zu heucheln. „Wir sind zufrieden, daß wir hier gepunktet haben“, habe ich einfach behauptet. Was soll ich sonst auch sagen bei dem Dusel, den wir gehabt haben? Wenn der Köpke bei den Schüssen von Dmitrulin in der 37. Minute und diesem unsympathischen Rebrow gleich nach der Halbzeit nicht so genial gehalten hätte oder dieser unangenehme Rebrow kurz vor der Halbzeit nicht den Pfosten, sondern ins Tor getroffen hätte, wären wir die Punkte allesamt los gewesen.

Und wir hätten uns nicht mal beschweren können. Diese Bayern im Mittelfeld waren ja die reinste Lachnummer. Wenn ich bloß an den Fehlpaß von Basler vor dem Pfostenschuß von diesem widerlichen Rebrow denke, kriege ich jetzt noch eine Gänsehaut. Der hat bei mir das letzte Mal gespielt. Da hole ich doch lieber Effenberg oder, von mir aus, sogar Lothar Matthäus. Gemach, gemach, Berti, reiß dich zusammen, nicht die Nerven verlieren! Liebes Tagebuch: Die letzten Sätze sind gestrichen.

Ein Glück, daß ich diese Saison wenigstens den Wosz entdeckt habe und hinten Sammer und Kohler dichthalten, als ginge es um den Europacup. „Ich habe nicht allzuviel Negatives gesehen“, habe ich den Journalisten gesagt. Wer's glaubt, wird selig. Der Klinsmann hing doch völlig in der Luft, schlimmer als bei den Bayern, bloß daß er aus der Nationalmannschaft nicht so leicht abhauen kann. „Es fehlte einfach die Bindung zwischen Defensive und Offensive“, mußte ich dann doch zugeben. Hoffentlich kommt keiner auf die Idee, daß so was auch am Trainer liegen kann. Hat ja schließlich jeder gesehen, daß die Jungs einfach kaputt waren nach dieser langen Saison und dringend Urlaub brauchen. Dumm nur, daß die Saison nächstes Jahr auch nicht kürzer ist, und dann kommt statt Urlaub eine WM.

Der Afrikaner hat's gut. Nigeria und Marokko, beide schon qualifiziert. Die kriegen jetzt die guten Hotels. Einfach ungerecht, diese Welt. Und wir müssen im August in Nordirland gewinnen, bei unseren Freunden, die uns immer so mächtig einheizen. Und das gleich nach dieser langen Saisonpause, wenn wir noch gar nicht wieder in Form sind. Das wird kein Zuckerschlecken. Und dann im Berliner Olympiastadion, wenn's nicht vorher zusammenkracht, gegen Portugal. Zum Glück haben die keinen Stürmer, der das Tor trifft, und wenn doch, haut er den Trainer und wird gesperrt. „Glänzende Ausgangsposition“, habe ich das heute nach dem Spiel genannt. Hat aber wohl keiner so recht geschluckt. Wenn wir uns so anstellen wie heute, müssen wir ja sogar gegen Armenien und Albanien Angst haben.

Na okay, die Ukrainer waren nicht schlecht, feine Fußballer allesamt, vor allem dieser garstige Rebrow. Aber wir sind schließlich Deutschland und müssen der Welt unseren Fußball aufzwingen. Wie stehe ich denn da, wenn sogar Schalke einen Europacup gewinnt, die Nationalmannschaft aber nicht Gruppenerster wird?! Bleibt doch glatt an mir hängen. Alles kann ich ja nun auch nicht auf die Ausländer in der Bundesliga schieben. Ich sehe schon die Schlagzeilen in dieser unaussprechlichen Zeitung: „So nicht, Berti!“ Verdammtes Pack, und nur weil ich ihnen nicht mein Tagebuch gebe, sondern lieber der taz.

Ach, hätten wir doch bloß an diesem gemütlichen Turnier in Frankreich teilgenommen, anstatt uns hier mit der Ukraine rumzuplagen. Ein bißchen mit Brasilien, Frankreich und Italien kicken, Hacke, Spitze, eins, zwei, drei, und bei der Gelegenheit hätten wir uns auch gleich nach vernünftigen Hotels umsehen können. Manchmal macht man eben alles falsch. Warum tue ich das eigentlich? Ach, heute ist einfach nicht mein Tag. Aber ich bin Berti, der Bundestrainer, da muß ich durch. Hauptsache, ich träum' nicht wieder von Lothar.

Deutschland: Köpke – Sammer – Kohler – Heinrich, Eilts, Helmer, Ziege – Basler, Wosz (70. Scholl) – Kirsten (87. Bierhoff), Klinsmann; Zuschauer: 55.000

Ukraine: Schowkowski – Golowko – Lujni, Dmitrulin – Kowal, Gusin, Waschtschuk, Nagornjak (89. Bejenar), Maximow (72. Schkapenko) – Schewtschenko, Rebrow (82. Michailenko)