Vom Krisenkind zum Schulschwänzer

■ Jedes Jahr schwänzen Tausende Schüler den Unterricht. Ein einziges Projekt kümmert sich um die Ursachen. Viele Bezirke verhängen keine Bußgelder gegen säumige Eltern, weil Rechtsmittel nur die Hilflosigke

Dennis aus der 7c besucht die Schule nur sporadisch. Wenn andere Unterricht haben, nimmt der Dreizehnjährige sich frei. Er hat den Tag über genug zu tun, um seiner alleinerziehenden Mutter zu helfen, die nachts in einer Kneipe arbeitet. Er macht Frühstück und Abendessen für seine jüngeren Geschwister, bringt den Kleinsten in den Kindergarten und holt ihn wieder ab. Nachdem er seine Geschwister ins Bett gebracht hat, schläft er selbst meist vor dem Fernseher ein. Die Schulzeit ist oft die einzige Freizeit für ihn.

Dennis gehört zu wahrscheinlich mehreren tausend Schulschwänzern in der Stadt, die sich nur sehr unregelmäßig oder gar nicht mehr in der Schule blicken lassen. Ihre genaue Zahl kennt niemand. Lehrer, Psychologen und Sozialarbeiter versuchen zu intervenieren — jedoch mit sehr unterschiedlichem Erfolg. „Wer länger der Schule fernbleibt, ist für uns schwer zu erreichen“, sagt Kurt Wanschap vom Schulpsychologischen Dienst in Charlottenburg. Erst wenn die Eltern zustimmen, kann er tätig werden.

Doch die Krise der Kinder ist oft nur ein Abbild der Familien- oder Ehekrise. Wenn Eltern ihre Probleme offenlegen sollen, lassen sie aus Scham und Angst einen ausgemachten Gesprächstermin wieder platzen. „Das ist häufig der Fall“, sagt Wanschap. „Sozialpädagogen an Gesamtschulen haben ganz andere Möglichkeiten, an die Eltern heranzutreten.“

In den übrigen Schulformen bleiben die Lehrer dagegen sich selbst überlassen. Viele fühlen sich überfordert, haben keine Zeit, sich mit den sozialen Umständen einzelner Schüler auseinanderzusetzen, oder halten sich für inkompetent. „Wenn der Schwänzer auch noch ein schwieriger Schüler war, gibt es von der Lehrerseite nur wenig Motivation, den Störer wieder in die Klasse zuholen“, sagt Heide Pfütze von der Schlesien- Oberschule in Charlottenburg, einer kleinen Hauptschule mit 350 Schülern und einem Ausländeranteil von 70 Prozent. Heide Pfütze begann vor sieben Jahren mit einem „Schulschwänzerprojekt“, das bisher einmalig in der Stadt ist. Dreizehn Jahre lang hatte sie miterlebt, wie das wachsende Problem Schulverweigerung unter den Teppich gekehrt wurde, die Betroffenen nach einigen vergeblichen Bemühungen nur noch als „Karteileichen“ existierten.

„Unbefriedigend ist der Zustand für beide, Lehrer und Schüler. Die Schüler werden nicht ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend betreut, und die Lehrer erleben sich unbewußt als Versager“, so das Resümeé der Lehrerin. Sieben Stunden in der Woche bekam sie vom Schulleiter für ihre Arbeit zugestanden, vor zwei Jahren gewährte der Senat eine halbe Stelle. Pro Jahr betreut sie etwa 20 Verweigerer, davon zehn Totalverweigerer. Rechnet man diese Zahl auf alle Schüler an Grund-, Haupt- und Gesamtschulen hoch, kommt man auf über 8.000 Totalverweigerer.

Ihre Arbeit besteht in erster Linie aus Gesprächen. Zunächst mit dem Klassenlehrer, dann mit den Schülern selbst – sofern sie noch in der Schule auftauchen – und mit den Eltern. „Die Ursachen für die Schulmüdigkeit liegen sehr häufig im familiären Umfeld“, so das Fazit von Heide Pfütze. Bei 95 Prozent der Kinder stünden Familienkonflikte wie Streit, Gewalt, Alkohol, wechselnde Bezugspersonen an der Tagesordnung. Hauptmerkmal sei allerdings die Trennung der Eltern. „Mich hat dieses Ergebnis selbst überrascht“, erklärt die Lehrerin.

Bei Schülern und Eltern stößt Heide Pfütze oft auf eine Mauer aus Lügen. Mit psychoanalytischem Verstand entwirrt sie das komplizierte Machtgeflecht innerhalb der Familien und tastet sich langsam zum eigentlichen, oft lange zurückliegenden Problem vor, das die Schulverweigerung auslöst. Das gelingt nicht immer: „Einige Familien haben um das Schulschwänzerproblem ein so dichtes Netz aus Lügen, Krankheit, Attest und Verleumdung gesponnen, daß nur die Versäumnisanzeige bleibt.“

Aber Heide Pfütze ist hartnäckig. Sie sucht immer den persönlichen Kontakt zu den Betroffenen, geht zu den Eltern nach Hause, denn „Briefe schreiben nutzt gar nichts“. Dabei kann es schon mal vorkommen, daß sie mit einem Schüler zusammen sein Zimmer saubermacht, seinem Leben damit ein Stück Struktur wiedergibt oder einen Vater unmißverständlich auffordert, sich zwischen seiner Familie und seiner Geliebten zu entscheiden.

Bei Dennis war das Gespräch mit der Mutter nach anfänglichem Lügengeplänkel sehr ergiebig. Als der Junge zwei Jahre alt war, trennten sich seine Eltern. Die Mutter heiratete wieder. Zu seinem Stiefvater entwickelte Dennis ein sehr inniges Verhältnis. Der Ersatzvater neigte jedoch zu Depressionen und beging Selbstmord, als Dennis sechs Jahre alt war. Danach hatte die Mutter wechselnde Partner. Weil sie nach einiger Zeit immer wieder aus ihrem Leben verschwanden, konnte sich Dennis nicht mit ihnen anfreunden. Pfützes Diagnose: Dennis hat keinen Platz in seiner Familie und zu viele Pflichten. Er bleibt außen vor, wenn wieder ein neuer Liebhaber einzieht. Er wird erst wieder zum Vertrauten der Mutter, wenn kein Mann im Haus ist. Er entflieht, indem er auf Trebe geht und sich mit Freunden trifft. Nach vielen Gesprächen, die nur wenig Besserung bringen, geht Dennis in ein Heim, das er als Zuhause akzeptieren kann.

Dennis bleib auch später ein „Fall“ für Heide Pfütze. Bei ihrer Arbeit erkannte sie, daß sie einzelne Schulschwänzer nicht einfach zu den Akten legen kann, wenn sie wieder in die Schule kommen. „Kontakt halten, immer wieder ganz beiläufig nachfragen ist sehr wichtig. Ich mache immer Pausenaufsicht, streife durch die Gänge und treffe da meine Leute wie zufällig.“ Zu Rückfällen kommt es, wenn es in den Familien wieder kracht – manche tauchen auch ganz ab, ins „Trebemilieu mit seinen subkulturellen Lernangeboten wie Autoknacken, Klauen, usw.“ Wer dort irgendwann fest Fuß gefaßt habe, komme wahrscheinlich gar nicht mehr in die Schule. Dann sei es vernünftiger, so Heide Pfütze, sie ziehen zu lassen und etwas für sie zu finden, „was sie stabilisiert“.

Je früher das Schuleschwänzen einsetzt, desto eher entwickelt sich eine Sucht daraus. Viele Jugendliche beginnen mit der Schwänzerei bereits in der Grundschule. Denn dort finden auch die meisten Trennungen statt. Kinder stellen sich dann existenzielle Fragen wie „Was wird aus mir?“ oder „Wie kann ich jetzt weiterleben?“ Das überschattet ihren ganzen Alltag, wenn es keine Hilfe von den Eltern, von Lehrern oder Psychologen gibt. Deshalb fordert Heide Pfütze, gerade an den Grundschulen Schwänzerprojekte einzurichten, aber auch für andere Schulformen Konsequenzen zu ziehen.

Das scheint jedoch aussichtlos. Für weitere Projekte dieser Art sieht Klaus Löhe, Staatssekretär in der Senatsschulverwaltung, keinen Bedarf. 1996 wurde in 533 Fällen ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern notorischer Schulabstinenzler eingeleitet — für Löhe keine alarmierende Größenordnung, auch wenn er sich bewußt ist, daß es eine hohe Dunkelziffer gibt. Schuleschwänzen sei nur dann ein Problem der Schule, wenn die Ursachen im Unterricht oder in der Person des Lehrers lägen. Ansonsten müßten in Zusammenarbeit mit den Bezirksverwaltungen soziale Dienste wie Erziehungsberatungsstellen oder die Familienfürsorge einspringen.

Die Bezirke verfahren bei der Androhung von Bußgeldern — bis zu 5.000 Mark werden verlangt, wenn auch selten durchgesetzt — offenbar sehr unterschiedlich. Während in Neukölln allein in 283 Fällen Rechtsmittel eingelegt wurden, hat man in Treptow, Charlottenburg, Pankow, Wilmersdorf und Zehlendorf gänzlich auf dieses Mittel verzichtet. Zu Recht, meint Staatssekretär Löhe, für den Bußgelder eher ein Anzeichen von Hilflosigkeit sind.

Einig sind sich Staatssekretär Löhe und Lehrerin Pfütze nur darin, daß sich letztlich die Institution Schule ändern müsse, damit Verweigerungshaltung obsolet wird. Heide Pfütze weiß auch, wie: Kleine Schulen mit festen Klassenverbänden, vielen kreativen Angeboten außerhalb des Unterrichts, am besten in Ganztagsform. „Wenn in Großstädten jedes zweite Kind geschieden oder getrennt lebende Eltern hat, muß es zumindest in der Schule erfahren, daß Beziehungen verläßlich und haltbar sind.“ Thomas Loy