Die Schüsse am 30. Mai 1925 in Shanghai

Der dtv-Verlag startet ein ambitioniertes Projekt. Ausgehend von bedeutenden Tagesereignissen wird in 20 Bänden die Geschichte dieses Jahrhunderts erzählt. Den Beginn macht eine Studie über die chinesische Revolution  ■ Von Christian Semler

Als einer der ersten Bände in der neuen Reihe „20 Tage im 20. Jahrhundert“, die der dtv-Verlag morgen in München vorstellen und die die ARD als Grundlage für eine Dokumentationsserie benutzen wird, ist Jürgen Osterhammels „Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution“ erschienen. Die Wahl des Datums 30. Mai als Zeitpunkt für das endgültige Ende des alten Chinas und als Beginn der Nationalen Revolution zu wählen, ist außerordentlich geschickt.

Denn jenes fatale Mai-Ende, an dem englische Poilizeieinheiten in der pulsierenden Millionenmetropole Shanghai unter demonstrierenden Studenten ein Massaker anrichteten, bezeichnet gleich in mehrfacher Weise einen Wendepunkt der chinesischen Revolutionsgeschichte. Seit dem 30. Mai gewinnt der Kampf der linken Studenten und Arbeiter seine „antiimperialistische“ Stoßrichtung, die er beibehalten wird, bis 1949 Mao Zedong auf dem Platz des Himmlischen Friedens die Volksrepublik proklamiert.

Gleichzeitig aber steht der 30. Mai für eine Illusion mit tragischen Konsequenzen: dafür, daß die chinesische Arbeiterbewegung die Initiative an sich reißen, zur treibenden Kraft des Bündnisses mit den bürgerlichen Nationalisten der Guomindang werden, die Kriegsherren Chinas besiegen und die Kolonialisten aus dem Land jagen würde. Diese Hoffnungen scheiterten, als Tschiang Kai-schek das Bündnis mit den Kommunisten 1926 zerriß und ein Jahr später Abertausende von linken Arbeitern und Intellektuellen in Shanghai niedermetzelte. Danach sammelten sich die Überlebenden in ländlichen Stützpunkten Südchinas, und die Revolution trat in ihre argrarrevolutionäre Phase. Deren grandiose, mythenumrankte Erfolgsgeschichte hat die frühen Jahre der chinesischen Arbeiterbewegung der Vergessenheit überantwortet. Sie ins historische Bewußtsein zurückzuholen macht nicht das geringste Verdienst von Osterhammels Unternehmen aus.

Den „Ereignissen“ der letzten Maiwoche 1925 widmet der Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniversität Hagen ein komprimiertes, erstes Kapitel. Das ist offensichtlich dem Aufbauplan der ganzen Reihe geschuldet, die jeweils entscheidende Tagesereignisse als Ausgangspunkt für eine umfassende Darstellung gesellschaftlicher oder kultureller Entwicklungen nimmt, ist aber trotzdem schade. Denn zahlreiche politische wie literarische Dokumente, oft auch in deutscher Übersetzung, unterrichten uns über das faszinierende politische und intellektuelle Klima Shanghais jener Tage. Wir wissen viel über das Elend der Unterklassen, über die Vergnügungen und die Morbidezza derer, die von diesem Elend lebten, nicht zuletzt über die Geheimgesellschaften und die Vernetzung des kriminellen Untergrunds mit der Polizei in den chineschen Territorien wie in den ausländischen Konzessionen.

Die gewählte Darstellungsform machte es dem Autor unmöglich, dieses Material, konzentrischen Ringen gleich, lustvoll vor uns auszubreiten. Ein so großer zeitgenössischer Schriftsteller wie Lu Hsün, den die Mordtat in Shanghai tief erschütterte, kann so nicht einmal Erwähnung finden. Jonathan D. Spence wunderschönes Buch „Das Tor des Himmlischen Friedens“, 1985 erschienen, sei hier zur ergänzenen Lektüre empfohlen.

Die große Stärke Osterhammels zeigt sich in den „strukturgeschichtlichen“ Kapiteln seines Buchs. Konzis, gestützt auf eine Fülle historisch-empirischen Materials, macht sich der Autor an die schier unlösbare Aufgabe, ein Bild des Chinas der ersten Jahrhunderthälfte zu entwerfen, „wie es wirklich war“.

Beispielhaft sei auf seine Untersuchungen zur Lage der chinesischen Bauern und der herrschenden Lokaleliten, der „Gentry“ hingewiesen. Wer sich je (und vielleicht noch dazu mit politischen Hintergedanken) diesem Thema gewidmet hat, dem stehen die brillanten, zupackenden, oft auch witzigen Untersuchungen Mao Zedongs aus den zwanziger Jahren vor Augen. Jetzt unterrichtet uns Osterhammel, wie kompliziert, wie kraß voneinander abweichend die Lebensverhältnisse der ländlichen Bevölkerung im Maßstab ganz Chinas waren. Das traf auch auf die Landarbeiter, die armen Bauern und die „unteren Mittelbauern“ zu, die Mao als revolutionäres Potential im Blickfeld hatte. Sie reagierten ganz unterschiedlich, je nach dem, ob sie beispielsweise in einem Klanverband arbeiteten, ob sie ihre Ausbeuter noch täglich vor Augen hatten oder ob sie ihren Pachtzins an einen Grundherrn zu entrichten hatten, der sich nie im Dorf blicken ließ und mit der Pachteintreibung seine Büttel beauftragte. Chinas arme Bauern waren eben doch nicht die „unbeschriebenen Blätter“, auf die die Revolutionäre ihren schönsten Gedichte schreiben konnten. So wohltuend sich die Entmystifizierung von Maos agrarrevolutionären Analysen auch liest: ihr Realitätsgehalt scheint doch beträchtlicher gewesen zu sein, als es der Autor konzediert. Zumindest wenn man den Erfolg als Kriterium nimmt.

Osterhammel hält ziemlich gleichmäßigen Abstand zu Nationalismus und Kommunismus, zu Mao Zedong und zum „Generalissimus“ Tschiang Kai- schek. Seine heimliche Sympathie gilt machtlosen Intellektuellen wie Hu Shi, die politischen Schlagworten mißtrauten und universalistischen, „westlichen“ moralischen Ideen anhingen. Für die Gedanken des großen Vorsitzenden hat dieser nur Verachtung übrig, er hält sie für unorginellen, eklektischen Mischmasch. Das ist für Hu Shi so sonnenklar, daß er kein einziges Sätzchen an die Begründung wendet. Dabei hätten wir gerne gerade hierzu etwas von einem Autor gelesen, der so sehr um die schwierige Kunst des Verstehens bemüht ist.

Jürgen Osterhammel: „Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution“. dtv, München 1997, 276 Seiten, 19,90 DM

Neben dem besprochenen Band erscheinen in diesem Monat: Volker R. Berghahn: „Sarajewo 28. Juni 1914. Der Untergang des alten Europas“. Brigitte Röthlein: „Mare Tranquillitis, 20. Juli 1969. Die wissenschaftlich-technische Revolution“. Harold James: „Ramboillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft“. Walter L. Bernecker: „Port Harcourt, 10. November 1995. Aufbruch und Elend in der Dritten Welt“.