■ Schlagloch
: Linke Welle? - Westerwelle! Von Klaus Kreimeier

„Ich wäre froh, wenn für die Weiterentwicklung Europas und auch die Erweiterung Europas ein Außenminister Fischer zuständig wäre.“ Daniel Cohn-Bendit in

einem Zeitungsinterview

Ja, wenn er denn dann wirklich zuständig wäre. Wahrscheinlich würde ein Außenminister Joschka Fischer nur mit geschliffenerer Rhetorik, allerdings auch mit weitaus mehr inneren Skrupeln vertuschen, was der hilflose Klaus Kinkel tagtäglich demonstriert: daß unsere Außenpolitik zunehmend der Ökonomisierung jeglicher Politik unterworfen und zum Instrument jenes Markttotalitarismus heruntergekommen ist, den die sechs, sieben führenden Wirtschaftsmächte gegenwärtig durchpeitschen. Kann, nach den Wahlsiegen Tony Blairs in Großbritannien und Lionel Jospins in Frankreich, ernsthaft von einem Vormarsch der Linken in Europa die Rede sein? Müßte dann, wenn schon nicht durch die deutsche Linke, so zumindest durch die deutsche Sozialdemokratie nicht jener „Ruck“ gehen, den Bundespräsident Roman Herzog vom ganzen Volk verlangt? Statt dessen überstürzen sich Lafontaine und Schröder regelrecht, dem Publikum zu versichern, daß sie weder mit Blair noch mit Jospin zu verwechseln seien – und ahnen dabei wohl dunkel, wie recht sie haben.

Nur der rote Dany bleibt der unentwegte Optimist, als den wir ihn seit 1968 kennen und lieben. Zwar räumt er ein, daß in Europa zur Zeit möglicherweise nur ein politisches Zapping im Gange sei – mit dem Wahlzettel als Fernbedienung; ein Hin- und Herspringen zwischen einigen verbrauchten und weniger verbrauchten Figuren des politischen Showbiz, die er selbst früher einmal „Charaktermasken“ genannte hätte. Doch mit dem Zapping wird er als Medienmensch, zu dem er zwangsläufig geworden ist, leben können – ja, leben müssen, wenn er künftig als französischer Europaabgeordneter gemeinsam mit einem deutschen Außenminister Fischer Europa erweitern und weiterentwickeln will. Die Haupttendenz auf unserem Kontinent jedenfalls, so meint er, werde die „Umorientierung zu einer sozialen Dimension“ sein, wenn nur endlich einmal alle guten Kräfte zwischen Atlantik und Ostseestrand ihre Chance wahrnehmen würden, „sich zu vereinen und klar nach außen Stärke zu demonstrieren“.

Es wäre aberwitzig, Cohn-Bendit vorzuhalten, daß er nicht mehr die Sprache spricht, die er noch sprach, als er in seinem Buch über den Pariser Mai den Linksradikalismus als „Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus“ pries. Nicht daß er den Jargon der Himmelsstürmer abgelegt hat, sondern daß er heute umstandslos den der professionellen Wogenglätter spricht, den Jargon intellektueller Windstille, der politisches Verstummen anzeigt, während wirtschaftliche Kräfte die Welt nach neoliberaler Façon ummodeln – das ist das Problem. Was hilft es, „klar nach außen eine Stärke zu demonstrieren“, die man nicht hat? Und was haben wir uns unter einer „sozialen Dimension“ für Europa vorzustellen, wenn sie nicht mehr verspricht und uns nicht stärker vom Hocker reißt als die gewiß erfreuliche, insgesamt aber ziemlich nichtssagende Tatsache, daß Monsieur Jospin „sehr gute Karten“ hat und von Cohn-Bendit aufgefordert werden kann, nun aber auch eine „erste entscheidende Duftmarke“ zu setzen?

Die Kulturrevolution der 68er war nicht zuletzt erfolgreich, weil sie intuitiv den Symbolgehalt sprachlicher Setzungen – und sprachlicher Instandbesetzungen – im Kampf um die Öffentlichkeit erkannt hatte. Selbst die semantischen Rasereien der Linienkämpfe – die heute in tragisch-grotesken Spektakeln wie dem Berliner Kongreß zum 2. Juni oder in schauerlichen Mediengemetzeln wie dem zwischen Mahler, Homann und Aust verflackern – waren nicht ohne Faszination, weil sie ein kulturelles Versprechen enthielten: die Garantie, nie wieder zurückzufallen in den von Adorno so genannten „Jargon der Eigentlichkeit“, nie wieder so zu reden wie Lübke oder das intellektuelle Lieschen Müller oder wie heute Kohl, Kinkel und Kanther reden. Achtundsechzig – das war, neben Vietnam und Anti-Springer-Kampagne, auch ein Kampf gegen die Albernheiten und Verschleierungen eines politischen Feuilletonismus, der nicht nur in der Politik selbst, nicht nur in der Welt, der Zeit und in der FAZ, sondern auch in den Hochschulseminaren seine „Duftmarken“ setzte.

Es gibt kein Zurück in die Sprachorgane des neomarxistischen Linksradikalismus; ein Wiederbelebungsversuch wäre so lächerlich, wie die Flucht in den Sprachverzicht heute entmutigend ist. Sie ist nur ein weiteres Indiz dafür, daß der „linken Welle“, die angeblich durch Europa geht, die kulturellen Antriebskräfte fehlen. Den studentischen Sprachartisten von einst, die heute als Mitglieder der politischen Klasse das Europa der Technokraten zusammenzimmern, bleibt keine andere Wahl, als den Jargon der Technokratie zu reden und die „soziale Dimension“ als schattenhafte Erinnerung an eine andere Politik in ein Europa hinüberzuretten, das durch Sozialabbau im Innern und als Festung nach außen sich für die Stürme der Globalisierung zu rüsten anschickt. Fatalerweise gibt es für Europa nichts anderes mehr zu tun. Europa als Vision gab es schließlich schon 1968, als die Studenten in Paris, Berlin, Rom, Prag und Warschau auf die Straße gingen und etwas Neues begannen, ein neues „Klima“, dem nicht zuletzt die sozialdemokratische Toskana-Fraktion ihre Existenz verdankt.

Ein Gespenst begleitet den von Blair und Jospin angeführten Aufbruch in eine linke Zukunft, das Gespenst der Vergeblichkeit. Kein Wunder, daß man sich in der SPD wie auch bei den Grünen verwundert die Augen reibt und eher unentschlossen hinterhertrabt. Die für jede politische Erneuerung unerläßliche kulturelle Schubkraft kann keine Partei herbeizaubern; sie kann nur aus den Fundamenten der Gesellschaft kommen. Bleibt sie aus, behalten die Konzerne das Heft in der Hand und bedienen sich des jeweils verfügbaren politischen Personals.

Die Arbeitslosen, die Jugendlichen ohne Ausbildungschance, die Sozialhilfeempfänger, die Ausgemusterten und Weggeworfenen unserer im Glanz der postindustriellen Modernisierung flimmernden Society hätten allen Grund, sich in ein anderes Programm zu zappen – gäbe es denn dies. Eine vage Erinnerung an die „soziale Dimension“ ist ja auch bei Norbert Blüm und im Arbeitnehmerflügel der CDU noch anzutreffen. Sie ist so nebelhaft geworden, daß Guido Westerwelle in gelegentlichen Anfällen von Übermut seine FDP als wirkliche und wahre Partei der sozialen Belange (und des sozialen Fortschritts sowieso) hinzustellen wagt. Eine Lachnummer, die das erschöpfte Publikum nicht mehr erheitert, sondern nur noch seine Frustration verstärkt. Daniel Cohn-Bendit als Westerwelle einer rot-grünen Koalition, die mit Skrupeln, aber fügsam die Verwertungsinteressen der Wirtschaft erfüllt – das ist eine Vorstellung, die des Grausigen nicht entbehrt. Doch in Zeiten allgemeinen Abbaus bleibt uns womöglich das Schlimmste nicht erspart.