Druck der Straße auf Frankreichs neue Regierung

■ Auch die linke Koalition ist vor Protesten nicht sicher: Gestern demonstrierten in Frankreich Tausende von Gewerkschaftern, Migranten und Beamten

Paris (taz) – Die Schonfrist für die rot-rosa-grüne Regierung hat nicht einmal eine Woche gedauert, dann meldete sich gestern die Basis mit Wucht zurück: Über 70.000 Demonstranten verlangten in Paris die „35 Stunden bei vollem Lohnausgleich“ und „Arbeitsplätze für Europa“. Beamte bei Bahn, Bussen und anderen Staatsbetrieben streikten.

Ein paar Dutzend „illegale Immigranten“ verlangten nach mehrtägigem Protestmarsch am Sitz von Premierminister Lionel Jospin „Aufenthaltspapiere für alle“ und die „Abschaffung der Einwanderungsgesetze“. Mehrere hundert Renault-Arbeiter klagten die Rücknahme der Massenentlassungen und der Werkschließung im belgischen Vilvoorde ein. Greenpeace-Aktivisten stoppten einen Atommülltransport, und die LKW-Fahrer erholten sich von den Straßensperren, mit denen sie bereits am Vortag Arbeitszeitverkürzung und vorgezogene Verrentung verlangt hatten.

Die Forderungen der Straße sind allesamt in den Programmen der Regierungsmitglieder enthalten. Gerade deshalb hatten französische Gewerkschafter befürchtet, daß in Paris der „europäische Aktionstag gegen die Arbeitslosigkeit“, kurz vor dem Europa-Gipfel in Amsterdam, ein Flopp werden würde. Damit hatten sie die eigene Basis unterschätzt – in Frankreich wurde der Aktionstag sogar entschieden stärker befolgt als irgendwo sonst in Europa. „Wir demonstrieren nicht gegen Jospin, sondern für seine Politik“, erklärten Demonstranten gestern mittag feinsinnig in Paris.

Die Koalition ihrerseits reagierte mit Kostproben eines anderen Umgangstons. Der kommunistische Transportminister Jean- Claude Gayssot, Ex-Eisenbahner und Privatisierungsgegner, versicherte den LKW-Fahrern, er werde sich „in Europa“ für sie einsetzen. Und ein Mitarbeiter von Premier Jospin empfing die „illegalen Immigranten“, die seit dem Tag nach der Wahl auf Paris „marschiert“ waren, und sagte ihnen zu, eine Untersuchungskommission einzurichten, die alle Einzelfälle erneut überprüfen und Vorschläge für eine andere Immigrationsgesetzgebung machen soll.

Selbst bei Renault, wo gestern Aufsichtsrat und Aktionäre tagten, machte der bis dato unnachgiebige Konzernchef Louis Schweitzer, der in den 80er Jahren Kabinettschef eines sozialistischen Premierministers war, ein kleines Zugeständnis. Noch vor der gestrigen Sitzung von Verwaltungsrat und Aktionärsversammlung sicherte Schweitzer zu, daß ein „unabhängiger Experte“ die für Ende Juli geplante Werkschließung im belgischen Vilvoorde überprüfen werde. Den Renault-Arbeitern auf der Straße war das zuwenig. „Schweitzer – Rücktritt!“ skandierten sie bis zum Abend. Dorothea Hahn