Ein Tier namens Mensch

■ Müllhalde mit Hintersinn: Der Brite Mike Nelson hat die Galerie im Künstlerhaus heimgesucht

Wenn dänische Lkw-Fahrer dänischen Joghurt nach Holland transportieren... Und wenn ihnen niederländische Lkw-Fahrer mit niederländischem Joghurt auf dem Weg nach Dänemark am Bremer Kreuz entgegenkommen... Und wenn sich die Niederländer mit den Dänen über CB-Funk auf deutsch oder englisch über die Qualität griechischen Joghurts unterhalten... Dann werden sie abgehört. Denn ein gewisser Mike Nelson hat sich in ihre Frequenz eingeschlichen. Der 30jährige Engländer indes ist nicht bei der Polizei, sondern Jäger und Sammler, sprich Künstler. Mit viel Hintersinn hat der Absolvent des Londoner Chelsea College of Art & Design in den vergangenen drei Wochen die Galerie im Künstlerhaus am Deich heimgesucht. Entstanden ist eine regelrechte Müllhalde mit CB-Funk-Anschluß und jeder Menge weiteren obskuren Objekten der Neugierde.

„Seit einem Jahrzehnt wird junge britische Kunst unter dem Label ,Young British Artists' weltweit vermarktet“, weiß der rührige Galerie-Kurator Horst Griese. „Doch diese Kunst ist mediengerecht, frisch-gestylt und sauber.“Mike Nelson paßt nicht in diese Kategorie. Denn wer das von seiner Kunst behauptet, muß eine Wäscheklammer auf der Nase haben.

In der Galerie im Künstlerhaus riecht es. Joghurt-ähnliche Säure ist zu ahnen. Die Nuancen von Fisch und anderem Getier umspielen und überdecken sie. Der Duft der großen weiten Welt steigt einem hier als Zivilisationsmüll in die Nase. Doch sachte das, Mike Nelson dosiert und überlegt sich nach eigenen Angaben sehr genau, wie brutal er sein kann.

Denn der erstmals in Deutschland ausstellende Nelson ist vor allem ein Geschichtenerzähler. Seine doppelbödig-hintersinnigen Arrangements schachtelt er aus Readymades und eigenen Kreationen ineinander. Auf den Straßen Londons, auf den als „car boot sales“bekannten Armenflohmärkten, wo direkt aus dem Kofferraum der Autos verkauft wird, auf Helgoland oder jetzt auf der Bremer Bürgerweide wird Nelson fündig.

Motorradhelme erwecken sein Interesse. Gleiches gilt für plattgetretene Bierdosen, abgelegte T-Shirts, Prinz-Charles-Fotos, Teekisten, Kaninchendraht, den Evening Standard vom 31. Juli 1969 und ungezählte andere Symbole eines zeitlich und räumlich universellen Tauschhandels, die er auf der Ladefläche seines offenen Pick-ups verfrachtet und diesmal nach Bremen gebracht hat.

Zwei Installationen wie Bühnenbilder für ein Theaterstück Andrej Worons hat er auf den Estrich-Boden der Galerie gezaubert. Beseelt wie Kienholz „Roxy's“in der Weserburg, gaukeln sie eine Lebensumwelt vor, die von den BewohnerInnen gerade eben verlassen wurde. So wie der Käfig gleich vorne. Die Holzlatten sind zerbissen und angefressen. Doch die Zeitungsseiten aus ebenjenem Evening Standard, der die Landung der Apollo 11 auf dem Mond in Wort und Bild dokumentiert, wecken eine Ahnung, daß das wilde Tier im verlassenen Käfig wohl ein Mensch gewesen sein muß.

Mit dem Mythos vom Schneller-Höher-Weiter wolle er aufräumen, sagt Nelson mit anderen Worten, als ob es einer Erklärung bedurft hätte. Denn auch das thematisch verwandte zweite Arrangement – das Camp eines seltsamen Trappers – spricht regelrecht für sich. Da sind T-Shirts wie Felle zum Gerben aufgehängt, da liegen Keulen und andere Jagdutensilien herum, und da ist ein Jägerkostüm mit Löwenmaske aufgestellt und von Pfeilen durchbohrt. Bild auf Bild und Schicht nach Schicht fügt Nelson Metaphern aufeinander und formuliert eine große Allegorie.

„Lionheart“alias Löwenherz heißt das ganze Ensemble und spielt auf den legendären mittelalterlichen König von England an, der von ebenso legendären Leuten wie Robin Hood verehrt wurde. Tatsächlich aber plünderte der die Staatskasse und wütete als Kreuzzügler. Die Irrationalität ist der Warp-Antrieb ins 20. Jahrhundert. Zivilisiertheit und Brutalität schließen einander nicht aus – damals nicht und auch nicht heute. Mit Recht haben die kritischen Theoretiker Adorno und Horkheimer dem Odysseus Aufmerksamkeit geschenkt. Doch daß jede Aufklärung dialektisch ist, zeigt kunstvoll Mike Nelsons „Löwenherz“im Künstlerhaus. Christoph Köster

„Lionheart“bis 12. Juli im Künstlerhaus; Eröffnung heute, 12. Juni, 19 Uhr