■ Filmstarts à la carte
: Avantgarde in Hollywood

Das Musical erfreut sich im Kino heute leider keiner besonderen Beliebtheit mehr. Während das Bühnen-Musical – und mit ihm ein äußerst unsympathischer britischer Komponist – nach wie vor Triumpfe feiert, sind die wenigen Bemühungen um eine Revitalisierung des einstmals so erfolgreichen Filmgenres bislang von keinerlei Erfolg angekränkelt. Auch im Repertoireprogramm umserer Lichtspieltheater finden sich die Tanzfilme äußerst selten – nur gelegentlich werden Klassiker wie Vincente Minnellis „An American in Paris“ noch gezeigt.

Im klassischen Hollywoodkino stellten Musicals die Avantgarde dar: Vom Zwang zum Realismus befreit, schufen sich die Musikfilme Freiräume für einen manchmal fast experimentellen Umgang mit Kamera, Dekors, Farbe und Bildformaten. Wohl in keinem anderen Genre finden sich deshalb so viele Traum- und Fantasysequenzen. In „An American in Paris“ träumt der Komponist Adam Cook (Oscar Levant) beispielsweise von der Aufführung seines ersten Konzertes: Dort ist er nicht nur Klaviervirtuose und Dirigent zugleich, er spielt auch alle anderen Instrumente selbst, bejubelt sich als sein eigener Zuhörer und schüttelt sich begeistert selbst die Hand. Höhepunkt des „Amerikaners in Paris“ ist jedoch das 17minütige Schlußballett; die einzelnen Szenen inspiriert vom Stil berühmter französischer Maler wie Dufy, Rousseau und Toulouse-Lautrec. Im Verlauf der Dreharbeiten hatte sich Regisseur Minelli von seinem Kameramann Alfred Gilks getrennt: Allzu stur ignorierte Gilks den Wunsch des Regisseurs nach einer differenzierten Lichtsetzung und übergoß die Sets förmlich mit Licht. Für das Ballett suchte sich Minelli deshalb einen Kameramann des anderen Extrems: Film- noir-Spezialist John Alton wandte die „low-key“-Fotografie erstmals auch in einem „großen“ Farb-Musical an. Sofort polarisierte er mit seinen Entscheidungen, Tänzer im Gegenlicht zu silhouettieren oder farbiges Licht zu verwenden, das Produktionsteam: Während sich Minnelli begeistert zeigte, waren insbesondere Art Director Preston Ames und die Kostümdesignerin Irene Sharaff von der Vorstellung, ihre Arbeit hinter farbigen Nebelschwaden verschwinden zu sehen, nicht sonderlich angetan. Doch Alton konnte sich durchsetzen und gewann – manchmal geht es in der Welt eben doch gerecht zu – für seine Fotografie den Oscar.

17.6. im Babylon-Mitte

Eigentlich hatte sich Komiker Buster Keaton als Höhepunkt von „Steamboat Bill, Jr.“ (1928) eine gewaltige Überschwemmung vorgestellt. Die wurde ihm jedoch untersagt: Man könne sich gar nicht vorstellen, was er an einer Flutkatastrophe komisch finde, hieß es damals, schließlich seien bei einer ebensolchen gerade erst eine Reihe von Menschen ums Leben gekommen. Keaton und sein Regisseur Charles F. Reisner mußten sich folglich mit einem Orkan „bescheiden“, einer Naturkatastrophe, die, wie der Komiker etwas süffisant, bemerkte, jährlich noch weitaus mehr Todesopfer fordert.

„Steamboat Bill, Jr.“ enthält einen der berühmtesten Stunts Keatons: Einen tonnenschwere Häuserfront kippt im Sturm um und verfehlt ihn aufgrund einer Fensteröffnung im Giebel nur um Haaresbreite, während er völlig ungerührt stehen bleibt. Keatons Ungerührtheit ist hier durchaus wörtlich zu nehmen, denn bei einem Fehlschlag dieses Bravourstücks wäre die Szene mangels Hauptdarsteller wohl kaum mehr zu wiederholen gewesen.

15.6. im Babylon-Mitte

Lars Penning

„Ein Amerikaner in Paris“,

„Steamboat Bill, Jr.“,