Ankaras Richter folgen den Generälen

Blamage für den türkischen Justizminister: Richter und Staatsanwälte lassen sich vom Generalstab über religiöse Gefahren belehren. Der islamistische Minister hatte es ihnen verboten  ■ Aus Istanbul Ömer Erzeren

Erregt lief Sevket Kazan zum Rednerpult des türkischen Parlaments. „Ich bin keine Vogelscheuche!“ rief der umstrittene Justizminister mit Parteibuch der islamistischen Wohlfahrtspartei. Wenige Tage zuvor hatte Kazan, oberster Dienstherr der Richter und Staatsanwälte in der Türkei, eine ministerielle Verfügung verschickt, in der er den Justizbeamten ausdrücklich untersagte, am Dienstag an einem Briefing des türkischen Generalstabes über die „Gefahren religiöser Reaktion“ teilzunehmen. Doch die Staatsanwälte und Richter scherte das nicht: Fast alle namentlich geladenen Gäste erschienen im Konferenzsaal des Generalstabes. Wegen des großen Andrangs mußten sogar zusätzliche Stühle in den Saal getragen werden. In Demonstrantenstimmung zogen alle Mitglieder des Verfassungsgerichtes zum Hauptquartier des Generalstabes. Selbst Oberstaatsanwalt Ilhan Mesutoglu, der zuvor im Auftrag des Ministers die Verfügung an die Kollegen verschickt hatte, folgte der Einladung.

Als gehörte es zu den selbstverständlichsten Aufgaben des Generalstabes, klärten Generäle die Richter und Staatsanwälte darüber auf, vor welchem „Abgrund“ die Türkei stehe. Die Kräfte der „irtica“, so der türkische Sammelbegriff für religiösen Extremismus, seien im Begriff, den „heiligen Krieg“ gegen die Republik zu eröffnen. 19 Zeitungen, 110 Zeitschriften, 51 Radiosender, 20 private Fernsehanstalten, 2.500 Vereine, 500 Stiftungen und 800 Schulen betrieben in diesem Sinne Propaganda. Dreißig extremistische islamische Gruppen könnten jederzeit „terroristische Aktivitäten“ entfalten, hatten die militärischen Geheimdienstler in Erfahrung gebracht. Unterstützt würden sie vom Iran, Libyen, Saudi-Arabien und dem Sudan. Die religiösen Schulen des Landes seien zu Kaderstätten des politischen Islam geworden.

Doch die Hauptattacke der Generäle richtete sich gegen die Regierung. Ministerpräsident Necmettin Erbakan verschaffe den „Reaktionären“ Auftrieb. So habe er Sektenführer zu einem Abendessen in seinem Amtssitz geladen. Der Justizminister habe wegen religiös-extremistischer Aktivitäten angeklagte Personen im Gefängnis besucht. Bei der Privatisierung öffentlicher Unternehmen würden islamistische Konzerne bevorzugt. Die Militärs lieferten den Richtern und Staatsanwälten, die dem Vortrag minutenlangen Applaus zollten, auch gleich die rechtliche Legitimation für solcherlei Aktivitäten des Generalstabes. Die Streitkräfte seien per Gesetz gehalten, bei der „Bekämpfung des inneren Feindes“ mitzuwirken.

Nach den monatelangen öffentlichen Auseinandersetzungen mit dem Militär und nach dem Verbotsantrag gegen die Wohlfahrtspartei vor dem Verfassungsgericht, versuchen sich die Koalitionspartner Ministerpräsident Erbakan und Außenministerin Tansu Çiller nun durch einen Sprung nach vorn zu retten. Erbakan hat für Oktober Wahlen angekündigt. Als Bedingung dafür, das Amt des Ministerpräsidenten noch vor den Wahlen an Çiller zu übergeben, fordert er die Änderung des Gesetzes über politische Parteien. Damit könnte er ein Verbot seiner Wohlfahrtspartei durch das Verfassungsgericht umgehen. Ein entsprechender Gesetzentwurf der Koalitionspartner wurde in Windeseile im Parlament eingebracht.

Ob die Koalition allerdings bis zu Wahlen weiterregieren kann, ist fraglich. Die Opposition will erneut einen Mißtrauensantrag stellen. Und Çiller verliert zusehends die Kontrolle über ihre „Partei des rechten Weges“. Zahlreiche Abgeordnete sind aus Protest gegen die Koalition mit den Islamisten ausgetreten. Nur mit den Stimmen der faschistischen „Einheitspartei“, die nur über acht Abgeordnetenmandate verfügt, kommt eine hauchdünne Mehrheit für die Koalition zustande.

Kommentar Seite 10