Betr.: Woltmershausener Männergesangsverein "Neue Eintracht"

Als die nordeutschen Männergesangvereine in Bremen 1927 ihr Sängerfest feierten, säumten 100.000 Menschen ihren Festzug vom Weserstadion in die Bremer Altstadt. Auf ihren Festwagen inszenierten sie ihre Auffassung von deutscher Geschichte, bestehend aus dem ewigen deutschen Ringen um Selbstbehauptung von der Germanenzeit bis zur Bildung der Nation im deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Dabei demonstrierten sie ein völkisches Geschichtsbild, das den Kult heidnischer Naturreligion mit germanischen Göttern wie Wotan bis zur Mythologisierung des anti-napoleonischen Freiheitskampfes von 1813 umfaßte. Streng geschieden von den Chören der Arbeiterbewegung war das bürgerliche Sängerlager 1933 an einer ideologischen Position angelangt, welche der Nationalsozialismus mühelos integrieren konnte.

Aus einem dieser Männergesangsvereine, der Woltmershauser „Neuen Eintracht“, liegt die Korrespondenz zwischen den zur Wehrmacht einberufenen Sängern und den Vereinsmitgliedern in Bremen vor. Diese Briefe zeigen, in welchem Maße diese jungen Soldaten den Krieg angesichts einer Welt voller Feinde als unausweichlich ansahen. Wissend um die Grauen des ersten Weltkrieges, die ihnen aus den Erzählungen der Väter vertraut waren, konnten sie in den neuen Krieg zwar nicht mehr mit der blinden Begeisterung ihrer Väter ziehen. Aber sie hatten ihm keine Sinnfrage entgegenzusetzen. Als das Vereinsprotokoll im September 1939 den Ausbruch des „unglücksseligen Krieges“protokollierte, machte der Text diese Distanz im Anschluß sofort wieder ungültig: „Alle Friedensvorschläge unseres Führers an Polen wurden durch die Kriegshetzer in London und Paris zunichte gemacht.“Und ein junger Soldat beschließt sein Bedauern, am heimatlichen Kohl und Pinkel Ausflug nicht teilnehmen zu können, mit der lapidaren Bemerkung: „Aber ischa Krieg, man muß als Soldat eben immer bereit sein.“Das klingt, als spreche der Schreiber von einer Verhinderung durch einen Regenschauer. Die Briefe drücken den Wunsch nach Heimat und Normalität aus, gleichzeitig regiert der Zwang der Verhältnisse und finden die Formeln der NS-Propaganda ihren Widerhall.

Diese Propaganda traf bei den Männerchören auf günstigste Voraussetzungen. Ihr Liederrepertoire bestand auch in der Weimarer Republik noch weitgehend aus dem Fundus des „Kaiserliederbuchs“aus der Zeit des Wilhelminismus. Das vaterländische Pathos dieser Lieder mußte nach 1933 nicht neu erfunden werden, das Hohe Lied soldatischer Aufopferung für Deutschland war schon vor der Reichsgründung von der bürgerlichen Nationalbewegung entwickelt worden. Was bis 1871 noch in Opposition gegen Fürstenwillkür stand und für Verfassungsreform eintrat, band sich vor dem ersten Weltkrieg kritiklos in das System deutscher Selbstherrlichkeit ein. Als die Sänger aus Woltmershausen in den Krieg zogen, verfügten sie über ein 100-jähriges Repertoire von Liedern, das ihnen Sinn und Trost vermitteln konnte.

Die hier dokumentierten Briefe sind Bestandteil einer vom Kulturladen Pusdorf mit der Kulturwerkstatt Westend entwickelten Ausstellung, die im Rahmen einer Tagung zur Geschichte des Alltagsbewußtseins im 3. Reich gezeigt wurde. Diese Ausstellung von Achim Saur und Manfred Weule sowie die von Hartmut Emig dazu produzierte musikalische Inszenierung (Komposition: Uwe Rasch) wird demnächst auf Wanderschaft gehen und im Herbst zuerst in Woltmershausen gezeigt. A. Saur