■ Am 12. Juli steuert Berlin auf einen Rekord zu: Zur Love Parade 97 in den Straßen der Hauptstadt werden eine Million Besucher erwartet. Das schafft Probleme. Und einen handfesten Konflikt zwischen ravender und ruhebedürftiger Society.
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Am 12. Juli steuert Berlin auf einen Rekord zu: Zur Love Parade 97 in den Straßen der Hauptstadt werden eine Million Besucher erwartet. Das schafft Probleme. Und einen handfesten Konflikt zwischen ravender und ruhebedürftiger Society.

Wem gehört die Masse?

Jährlich im Juli wird Demoskopie anschaulich. Dann kommt die ravende Gesellschaft aus ihrem Schattendasein in Clubs und Kellern heraus, um busweise Formen der Vergesellschaftung entgegenzurollen, wie sie sonst nur von sportiven Großerereignissen her bekannt sind: Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!

„By the time we got to Woodstock, we were half a million strong“, sang Joni Mitchell in ihrer Hymne auf den ruhmreichen Move von 1969, als die Hippie-Generation sich im Schlamm von Yasgar's Farm selbst feierte – j. w. d. in der amerikanischen Provinz. Inzwischen ist das nicht nur historisch verblaßt, sondern auch rein rechnerisch überholt. Für die Love Parade 97 am 12. Juli wird das Durchbrechen einer Schallmauer erwartet: von 750.000 im letzten Jahr auf eine Million. Eine Zahl, die nicht nur das mediale Begehren anheizt und Fotoreporter in Lohn und Brot setzt, sondern Hitze in die Administrationen der Stadt bringt. Wem gehört soviel Masse? Können 1.000.000 Love- Parade-Fans sich irren? Und wird das nicht eine Riesensauerei?

Wie immer bei öffentlich ausgetragenen Millionenspielen gibt es einen Polarisierungseffekt. Und wie immer sind die Karten hinter den Kulissen etwas bunter gemischt. Die Veranstalter wollen natürlich weiterwachsen – schon weil sie die Veranstalter sind und sich das hübsche Motto „Let the sun shine in your heart“ ausgedacht haben. Die gebeutelte Stadt sagt repräsentativ ja, allein der Kaufkraft wegen, fürchtet aber um Folgekosten bei Wählern und Anrainern. Das Öko-Lager sagt jein, hat aber außer Lärm- und Müllbeseitigungsproblemen nicht mehr viel zu bieten und führt bei seinen Umleitungsstrategien ein adliges Kind im Schilde (in dessen Namen BUND und Anwohner auf Verlegung der Route klagen). Die müde, alte, radikale Linke würde prinzipiell nicht nein sagen, ließe die Love Parade sich hehren Zielen sozialer Veränderung zuführen: mehr Revolution statt Rave- o-lution. Aber da geht das Problem schon los. Sie will ja nicht! Sie glaubt bloß an Dezibel und Dr. Motte. „Deshalb setzen wir der Love Parade all unseren Haß entgegen“, heißt es in einem Pamphlet der „Bewegung 12. Juli“, das Anfang der Woche in Berlin verteilt wurde. Ewige Haßkappen in kulturkonservativer Mission: Mit Stinkbomben soll der ravenden Gesellschaft zu Leibe gerückt werden, vielleicht auch mit „Hate Parade“-mäßigen Attacken auf technotransportierende Tiefladerreifen. Matthias Roeingh alias Dr. Motte, der Mann, der den Umzug 1989 ins Rollen brachte, sei nämlich ein übler Volksverhetzer, ein Mann des Kommerzes, der an sich nicht üble Jugendliche in Kohl's willing consumers verwandelt – wenn nicht gar verhext!

Wie – leider – meistens sind die Strategien der versprengten Restlinken in der Sache die durchsichtigsten und selbstbezogensten, denn: Wollten die Berliner Autonomen das nicht schon immer – irgend jemand aus Kreuzberg oder sonstigen Heimatkiezen rausschmeißen? Dabei haben wir es mit einem klassischen Fall von enttäuschter Liebe zu tun, die in Neid gekippt ist. Das ganze forcierte Hassen ist nichts weiter als ein letzter verzweifelter Kampf um die sogenannte Massenbasis. Daß ganz nebenbei der alte Psychomechanismus der Projektion bestätigt wird, hat immerhin etwas Beruhigendes: Sag mir, wie du es mit der Love Parade hältst, und ich sage dir, wer du bist.

In diesem Sinne paßgenau rollenkonform auch der Beitrag der Bündnisgrünen nebst BUND und SPD-Tiergarten: Sie mobilisieren per Klage gegen den Einfall der fremden Horde mit anders gelagerten, aber ähnlich reservatschützerischen Argumenten. 2.330 unschuldige Büsche habe die Love Parade 96 das Leben gekostet, rund 750.000 Liter Raver-Urin seien in den Boden des Tiergartens eingesickert, vom Müll ganz zu schweigen. Hauptleidtragende, neben zeitweilig vertriebenen Nachtigallen und Bürgern, denen der Hut vom spitzen Kopf flog: ein anwaltlich vertretenes einjähriges Kind namens Philine Partsch-von- Bismarck. Die Unschuld vom Lande Berlin.

Im Konflikt zwischen ravender und ruhebedürftiger Society hat das Gericht zu schlichten – auf der Basis ganz vieler Rechenbeispiele. Woher diese manische, durch Scheinobjektivität sozusagen doppelanalfixierte Hinwendung zu Körperausscheidungen? Wenn Deutschland Europameister in Techno ist, dann ist Berlin eben Weltmeister im Mülltrennen. Offen bleibt dabei bloß die Frage, was solche Leute mit dem Karneval von Rio anstellen würden. Umleiten?

Eigenartigerweise ist dort aber auch noch niemand auf die Idee gekommen, Massentanzen als politische Demonstration zu reklamieren, wie die Veranstalter das tun – und das aus augenscheinlichen Kostengründen. Jede/r aufgeklärte RaverIn weiß inzwischen, daß die Love Parade etwa so politisch ist wie ein Sonnenbad oder Sex vor dem Frühstück – also je nach Neigungswinkel mittel-, mikro- bis null politisch. Aber darum geht es auch gar nicht mehr. Die Love Parade ist ein eingetragenes Warenzeichen, dessen Strahlkraft viele Interessen anzieht. Längst hat sich eine in sich verdrehte Regenbogenkoalition von ursprünglichen Betreibern und populärpolitischen Nutznießern gebildet im Millionendorf Berlin. Und während Motte & Co. in ihren Lofts sitzen und sich Sorgen machen, die Manövriermasse Mensch könne ihnen entgleiten, das Ganze womöglich in eine Massenpanik ausarten (Tiere in Tiergarten!), verkündet der Berliner CDU-Fraktionschef Landowsky, ohne rot zu werden: „Mir sind eine Million fröhlicher, tanzender Jugendlicher in Berlin jedenfalls lieber als das ganze gewaltbereite Potential, das Jahr für Jahr rund um den 1. Mai Läden zerstört.“

Seltsame Rechnungen von Wirten, die es ihrer jeweiligen Klientel recht machen müssen. Bloß die Million Raver selbst hat mal wieder keiner gefragt. Es ist ihr aber auch egal. „Der Drang zu wachsen ist die erste und oberste Eigenschaft der Masse“, schrieb Elias Canetti bereits 1960. „Wer immer wie ein Mensch gestaltet ist, kann zu ihr stoßen.“ Die ravende Gesellschaft hat keine Feinde – außer ihre eigene Zahl. „Ihr Zerfall setzt ein, sobald sie zu wachsen aufhört.“ Thomas Groß, Berlin