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: Sentimentale Plauderei: Lothar Trolles "Heimarbeiterin" am BE

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Sentimentale Plauderei: Lothar Trolles „Heimarbeiterin“ am BE

Lothar Trolles neues Stück ist knapp drei Seiten lang, in großzügigem Druck. Seine Uraufführung, so kündigte das Berliner Ensemble an, sollte anderthalb Stunden dauern. Das konnte schwerlich gutgehen.

„Die Heimarbeiterin“ klebt Diarähmchen zusammen, bekommt Wehen und gebiert ein Kind. Die Heimarbeiterin packt das tote Kind in eine Plastiktüte und vergräbt es im Stadtwald. Die Heimarbeiterin säubert die Wohnung. Die Heimarbeiterin kehrt zurück in den Stadtwald, gräbt das tote Kind wieder aus und stellt sich der Polizei.

Soweit Trolles Szenarium. Die BILD-Zeitungsgeschichte Die Heimarbeiterin Foto: Aurin konfrontiert er mit traurig- schaurigen Texten aus einem alten Volksliederbuch. „Wenn das Mädchen anfängt, diese alten Lieder zu singen, erscheint sie in einem anderen, strahlenden Licht“, so Trolle über sein Stück.

Catherine Stoyan spielt auf der Probebühne des Berliner Ensembles die Heimarbeiterin. Abwesend, in sich selbst verpuppt, sitzt sie am Tisch und sortiert, langsam zählend, Diarähmchen in Pappkartons. Setzt eine Wehe ein, erstarrt sie. Einige Rahmen fallen herunter. Langsam geht sie zu Boden, kriecht um den Tisch. Mit abklingendem Schmerz gelangt sie wieder auf den Stuhl und nimmt von neuem ihre Arbeit auf. Souverän auf dem schmalen Grat zwischen realistischem und durch Zählen, Erstarrung, Wehenschmerz und zunehmendes Diarahmenchaos streng formal strukturiertem Spiel wandelnd, hat Catherine Stoyan eine grandiose Viertelstunde.

Die Regisseurin Wera Herzberg aber traut weder ihrer Hauptdarstellerin noch dem Autor so recht. Die präzis konzentrierte Catherine Stoyan läßt sie später rennen, stolpern und keuchen. Dem Text nimmt sie weitgehend sein Herzstück, die alten Volksliedtexte. Weil ihr dann aber nicht mehr viel zu tun bleibt, packt sie noch eine zweite Uraufführung dazu: einige Prosatexte Trolles, zwei oder drei Berliner Märchen und ein nostalgisches Abc, die von zwei freundlichen älteren Ensemblemitgliedern, Frau Gloger und Frau Haase, auf langem Spaziergang um die Bühne gemütlich dahergeplaudert werden. Das ist so melancholisch altersweise, so charmant berlinerisch, so voller Kopfsteinpflasterpoesie, daß man die arme kleine Heimarbeiterin gleich ganz darüber vergißt. So vergehen denn tatsächlich anderthalb Stunden. Nicht einmal die Hälfte davon gehört der Heimarbeiterin. Aus Trolles kindermörderischem Volksliederabend wird eine sentimentale Plauderei. Statt des strahlenden Lichts, das dem Autor vorschwebte, gibt es bloß funzelige Gemütlichkeit. Michael Mans

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