Chaos-Tage in Amsterdam

■ Heute treffen 15 Regierungschefs zum Gipfel der Europäischen Union zusammen. Nach wie vor herrschen Streit und Unklarheit über den Beschäftigungspakt. 50.000 EuropäerInnen machen auf der Straße Druck

Amsterdam (taz) – Rund 50.000 Menschen hat es am Wochenende nach Amsterdam zum EU-Gipfel gezogen. Bevor die EU-Regierungschefs über die Zukunft der Europäischen Union verhandeln, wollten VertreterInnen von Gewerkschaften, Frauen- und Lesbengruppen, Umweltverbänden und Jugendorganisationen ihren Protest an den unsozialen Beschlüssen kundtun. Aus allen Staaten der Europäischen Union, aus Marokko und Slowenien waren sie seit Tagen in die niederländische Hauptstadt gereist.

„Wir demonstrieren gegen die antidemokratische Zentralisation der Macht“, sagte Kenneth Haar aus Dänemark. Ihm und vielen anderen SkandinavierInnen wäre es am liebsten, wenn die EU abgeschafft würde. Sie lehnen daher auch die von den Regierungschefs geplante Reform der Europäischen Union ab. Die führe nur zu einer weiteren Verarmung der EU-Länder. Denn 50 Millionen Arme und 20 Millionen Arbeitslose in den Staaten der Europäischen Union seien genug. „Das Wirtschaftsprogramm der EU ist unsozial“, sagt Peter Merry aus Großbritannien. Durch die Verträge von Amsterdam werde die soziale Ungerechtigkeit nur verschlimmert.

Die Osterweiterung der EU ist zwar noch nicht beschlossen, aber Melita Rogelj ist dennoch aus Slowenien angereist. „Ich will wissen, worauf wir uns da wirklich einlassen“, sagt die 24jährige. Am Vorabend hatte sie noch auf einer der vielen Veranstaltungen zum Gegengipfel über „Revolution oder Reform“ diskutiert. „Dies ist der Anfang einer ersten europäischen Opposition“, freute sich eine junge Deutsche. Wie so viele andere war sie nach Amsterdam gereist, um sich mit den internationalen MitstreiterInnen zu vernetzen.

Die italienische Delegation aus Gewerkschaften und Sozialverbänden wie Leoncavallo konnte erst verspätet zur europäischen Versammlung stoßen. Im Bahnhof von Amsterdam hatte die Polizei alle 200 Insassen eines Waggons verhaftet. Sie hätten „kollektiv öffentliches Eigentum beschädigt“, hieß die offizielle Begründung. Ein Augenzeuge berichtete, daß die Randale in einem anderen Waggon stattgefunden habe. Nach acht Stunden Gefängnis wurden die Verhafteten zum Zug gebracht, der unter Bewachung zurück nach Italien fahren sollte. Ein kräftiges Reißen an der Notbremse habe dies jedoch verhindern können. Außerdem verhaftete die Polizei neun mutmaßliche Punks und Autonome. Sie hatten mit rund 150 anderen, vor allem aus Deutschland, Steine auf Polizeiautos geschmissen.

Die erst gestern abend eingetroffenen Regierungschefs und ihre Minister nutzten das Wochenende für weitere Ankündigungen und Wortgefechte. Frankreichs Finanzminister Dominique Strauss-Kahn sagte gestern, daß er zu einer Lösung bereit sei. Seine Regierung hatte bislang einen finanziell abgesicherten Beschäftigungspakt für Europa gefordert. Davon scheint sich Frankreichs Regierung verabschiedet zu haben. Für Beschäftigungsprogramme gebe es aus Deutschland keinen Pfennig, sagte Finanzminister Theo Waigel gestern erneut. Auf gar keinen Fall werde Deutschland noch mehr Geld in die Kassen der EU zahlen. Ilka Schröder

Tagesthema Seite 3