Vom Bahnhof ins Ungewisse locken

■ Sechs neue Streetworker sollen Junkies aus der offenen Bahnhofsszene zum Ausstieg bewegen / 40 neue Schlafplätze

„Remis, hat jemand Remis für mich?“Eine schlotternde junge Frau in einem übergroßen Mantel jammert nach dem codeinhaltigen Medikament Remedacen, das die Entzugserscheinungen lindert. Wenn sich Drogenkranke morgens zum Hauptbahnhof schleppen, haben sie keinen Sinn für die Senatspläne gegen das sichtbare Elend in der Stadt. Rund 150 Abhängige kaufen oder verkaufen dort Stoff. Auf Beschluß des Senats rücken ihnen jetzt sechs zusätzliche Streetworker auf die Pelle, um für das ausgefeilte Drogenhilfesystem der Hansestadt zu werben.

Von jetzt auf gleich sollen Ausstiegswillige bekommen, wovon sie sonst nur geträumt haben: ein Bett für die Nacht, einen Entzugsplatz und wenn nicht gleich Arbeit, dann doch eine stundenweise Beschäftigung. Die Sozialbehörde hat in ihrem Etat eine halbe Million Mark umgeschichtet, um mit dieser Maßnahme auf den abgeschmetterten Bettlererlaß der Innenbehörde zu reagieren, mit dem Obdachlose und Junkies im Winter von der Bildfläche vertrieben werden sollten.

Fünf große Drogenhilfeträger (die Vereine Jugendhilfe, Frauenperspektiven, Jugend hilft Jugend und Therapiehilfe sowie die Drogenhilfe Eimsbüttel) unterstützen die Aktion. Ihr Bus steht auf dem Bahnhofsvorplatz. „Wir wollen aber nicht die Illusion nähren, daß die Szene auf diesem Wege zu beseitigen wäre“, sagt Kai Wiese von Jugend hilft Jugend e.V.. Seine Vorstellung geht eher dahin, daß die Straßensozialarbeiter die Defizite der bisherigen Arbeit der Drogenprojekte aufdecken, daß sie sich also „auch mal einen Ausstiegswilligen unter den Arm klemmen, um ihn mit dem Auto zum Entzug ins AK Ochsenzoll zu fahren, der es allein nicht schafft“.

Die längst notwendige Maßnahme fällt in eine Zeit, in der die Rahmenbedingungen für die Drogenhilfe immer schwieriger werden: 40 neue Schlafplätze können nicht darüberhinwegtäuschen, daß die Kassen jeden Abhängigen durchleuchten, bevor sie eine obendrein von achtzehn auf zehn Monate verkürzte Drogentherapie bezahlen. Zum Ende des Jahres läuft außerdem der Vertrag für die Methadonvergabe in der Hansestadt aus: Rund 70 Prozent der 2200 Ersatzdrogen-Patienten werden im Herbst überprüft. Die Finanzierung ihrer Methadontherapie ist aufgrund der Richtlinien für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ebenso ungesichert wie der Bestand der beiden Drogenambulanzen. Zur Zeit kommen dennoch monatlich 58 neue Patienten ins Methadonprogramm, wenn auch ausschließlich Schwangere und Schwerkranke. Lisa Schönemann