Ich nenne sie nur Frau Lehmann“

■ Adoptiv- und Pflegekinder kommen in einem neuen Buch zu Wort/ Mancher Pflegevater heißt einfach Toni

Krone sagt: „Anfang der siebten Klasse fing meine Mutter so richtig an zu saufen. Dann hat sie alles kaputtgesoffen. Sie war dann Sozialhilfeempfängerin. Ich weiß nicht, was in ihr vorging. Sicher, davor hat sie auch schon getrunken, aber nicht gesoffen. Sie hat dann zusammen mit meinem Stiefvater getrunken, der jetzt im Gefängnis sitzt wegen versuchten Mordes an meiner Mutter. Das habe ich gut verkraftet. Ich habe zu meiner Mutter gesagt, daß ich nicht mehr mit ihr zusammenleben will.“

Krone ist 17, in Tenever aufgewachsen. Krone sagt: „Manchmal mache ich mir Gedanken um meinen kleinen Bruder. Der geht auf den Kinderstrich am Bahnhof. Er ist 14.“Sollte ihm sein leiblicher Vater, über dessen Identität sich Krone nicht sicher ist, einmal über den Weg laufen, „kriegt er von mir eine aufs Maul“. Damals, zu Hause, wenn es wieder so weit war, wenn der Stiefvater auf die Mutter losging, wenn er ihr mit dem Löffel die Augen ausdrücken wollte und ihren Kopf in heiße Suppe tunkte, wenn er dann von der Polizei abgeholt wurde, um am nächsten Morgen wieder vor der Tür zu stehen, wenn sich die Alten wieder aussöhnten, „Friede Freude Eierkuchen“, dann dachte Krone, daß er weg wollte von Tenever. „Ich habe gesehen, daß man dort keine gesellschaftlichen Aufstiegschancen hat. Wenn man stark ist, kann man da rauskommen.“

Eigentlich reicht einem so ein Schicksal wie das von Krone. Als Schicksal; vielleicht auch als möglicher Beleg dafür, daß Kinder mit schlimmen Erlebnissen umgehen können, wenn sie eine Sprache finden für das. Für den Bremer Journalisten Charly Kowalczyk, der Krone und 13 andere Jugendliche interviewt und die Interviews in ein Buch geschrieben hat, sind die Kinderschicksale allerdings nur der Hintergrund für seine höchstpersönliche Untersuchung der Frage: Was bewegt eigentlich Kinder, die bei Pflegeeltern oder bei Adoptiveltern aufwachsen? Er selbst ist Pflegevater von zehnjährigen Zwillingen und hatte sich gewundert, daß es kein Buch auf dem deutschen Markt gibt, das solche Kinder zu Wort kommen läßt. Er fand einen Verlag und begann mit der Arbeit. Jetzt sitzt er schon an einem Nachfolgeband – so schlug sein Buch ein.

Krone – wenn es stimmt, was er sagt – hat Glück gehabt. Er lebt bei Pflegeeltern, die er sich selbst ausgesucht hat: bei den Eltern eines Freundes. Die setzen ihm Grenzen, behandeln ihn korrekt, der „Pflegevater versucht, das Intellektuelle in mich reinzukloppen“. Insbesondere wohnen sie nicht in Tenever. Krone wirkt auf eine beinahe erschreckende Weise abgeklärt, auch wenn er an das bevorstehende Ende seiner leiblichen Mutter denkt. Es sei besser für sie, nicht mehr so lange zu leben. Außerdem wünsche er sich eine Karriere als Profifußballer. Und sein Traum sei, daß seine Mutter ihn mal in SAT 1 sähe.

Das latente Thema des Buches ist die „leibliche Mutter“. Das Thema macht offenbar umso mehr Schwierigkeiten, je früher ein Kind von der leiblichen Mutter getrennt wurde. Es scheint akuter zu sein bei einem Adoptivkind, das ja fast ein „richtiges“, „eigenes“Kind ist. Und besonders in Adoptivfamilien existieren oft enorme Ängste, offen über die Herkunft des Adoptivkindes zu reden. Solche Ängste bestehen nicht einmal zu Unrecht – die Bedrohung der Pflege- oder Adoptivfamilie durch die leiblichen Eltern ist real.

Welche gedanklichen Konstrukte nötig sind, damit Krone und die anderen Kinder mit ihrer Situation zurechtkommen, zeigt die Begriffsverwirrung um das Wort „Mutter“. Frederike (14), schon als ganz kleines Kind adoptiert, sagt: „Also ich finde, Mama und Papa sind meine richtigen Eltern.“Sie meint ihre Adoptiveltern. Thomas (21) sagt: „Ich bin vor vier Jahren meinen Eltern weggenommen worden.“Zu seinem Vater sagt er allerdings nicht mehr „Papi“: „Er ist für mich einfach der Toni.“Seine neue Mutter heißt „Pflegemutter“, seine alte Familie „eigentliche Familie“. Angela (18) sagt: „Es kann sein, daß meine leibliche Mutter ein bißchen neidisch auf meine Eltern ist.“Daniel (13), den sie in kochendes Wasser gesetzt hatten, unterscheidet zwischen Eltern und „richtigen Eltern“. Seine Schwester Jessica (15) hat eine Pflegemutter, die sie „Mutter“, und eine „leibliche Mutter“, die sie „Frau Lehmann“nennt. Jessica sagt: „Ich weiß nicht, woher das kommt, daß ich sie so distanziert anspreche.“Neuerdings schreibt sie ihr Briefe, darin steht „Hallo Mutter“. Das sollen aber die Pflegeeltern nicht sehen.

„Treue zu den leiblichen Eltern“nennt Charly Kowalczyk den tieferen Grund für die Angst, die Tabuisierung des Themas. „Mama und Papa sind meine richtigen Eltern“, so lautet auch der Titel des Buches, „wühle auf“, so sehr, wie er das vorher gar nicht geahnt habe. Lesungen und eine Sendung im Radio, während der ihn Hörer befragen konnten, zeigten überraschenderweise, daß es sehr viele Alte gibt, die sich bzw. ihre Kindheit in dem Buch wiederfanden. Für Ältere, die oft erst bei der Hochzeit, als sie ihre Geburtsurkunde in die Hand bekamen, etwas über ihre Herkunft erfuhren, macht Kowalczyk jetzt einen Folgeband.

Kowalczyks Buch dokumentiert ausschließlich die Interviews und hat ein kleines Nachwort. Wenn man ein kleines Plädoyer herauslesen wollte, wäre es dies: Der Versuch, Pflege- oder Adoptivkinder zu „eigenen“zu machen und die wahre Herkunft zu verdrängen, bringt Kinder in große Schwierigkeiten. Reden ist gut. Wie es geht, kann man hier nachlesen.

BuS

Charly Kowalczyk, Mama und Papa sind meine richtigen Eltern. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein 1997. 32 Mark.