Ein Glücksfall für Nordost

In Neubrandenburg kämpft das Kammertheater mit Shakespeares „Sturm“ gegen die fliederfarbene gute Laune der Nachwendeprovinz an  ■ Von Nikolaus Merck

Am Anfang war das Nichts. Nebel lagen über dem Tollensesee. Dann kamen die Puppenspieler. Aus Wittenberg und Berlin. Und gründeten das Staatliche Puppentheater Neubrandenburg. Mit viel gutem Willen, einem Doppelwaschbecken und einigen Illusionen über die Möglichkeiten von selbstbestimmtem Leben und Arbeiten in der DDR-Provinz.

Das ist 21 Jahre und einen Systemwechsel her, der Neubrandenburg nach der stalinistischen Reanimierung der zerstörten Stadt im Nachkrieg den Sieg der Dinslakener Neomoderne gebracht hat. Burger King, Putschi-putschi-gute- Laune-Musik in jedem fliederfarbenen Café am Ort, und in der Platte der Henselmann-Schülerin am Markt residiert das Radisson.

Gut' Nacht? Nicht ganz, denn immer noch existiert das Kammertheater Neubrandenburg, der Nachfahre der Puppenspieler. Lebendiger denn je und staatlich subventioniert im 200 Jahre alten Comoedienhaus. Ein Glücksfall im Nordosten. Kein Apparat, keine Gewißheiten, keine altbackene theatralische Konvention. All das, was anderswo dieser archaischen Kunst den Garaus zu machen droht, gilt hier als Schreckgespenst.

Für Shakespeares „Sturm“ hat das 24köpfige Ensemble – etwa zur Hälfte Künstler und Techniker, die Arbeitsteilung unterhalb dieser Trennlinie ist weitgehend aufgehoben – kurzerhand das Hyperweiß des 1994 renovierten Theatersaals rot überstrichen. Elf Wochen dauerten die Proben, das Ergebnis, wie bei den hier zum Teil über Jahre gezeigten großen Produktionen üblich: der Beginn eines „work in progress“.

Hausfreund Holger Friedrich, selbst gelernter Puppenspieler und mit seinem Neubrandenburger Kultstück „Der Bademeister“ über die Campingkultur der DDR Erfinder des Actor-Jazz, läßt das Publikum auf der Bühne Platz nehmen. Und der Vorhang geht zu. Der Bühnenkasten wird zum Schiff. Schwankende Gestalten rufen auf ostdeutsch den englischen Text. Donnergetös', Sturmgebraus', Balken splittern. Wenn der Vorhang sich öffnet, wabern Nebel. Das Haus hat sich in die weite Halle eines Grandhotels mit Korbsesseln und Grünpflanzen verwandelt. In einer Ecke die Bar. Auf den Tischchen glimmen Kerzen. Der Stoff, aus dem die Träume sind, das ist eine Insel voller Töne. Wehe Akkordeonphrasen, unterlegt von Cello und Baß, flattern durch das Zwielicht. Hier und da scheppern schräge Trompetentöne. Sehr zögerlich erglühen die Tütenlampen.

So traumhaft schön wird's später nimmer. Trotz gelegentlich superber Bilder, wenn Friedrich als sein eigener Bühnenbildner Durchblicke bis ins Foyer eröffnet. Die Crux des vierstündigen Abends ist der Verzicht auf die Verzahnung der getreulich gespielten Shakespeare-Szenen mit der Salongesellschaft rundum. Wenn Schauspieler nicht „dran“ sind, beobachten sie, plaudern, rauchen oder musizieren. Kein Zwischenruf und keine Intervention, nur losgelöstes, emsiges Treiben, das bald spannender ist als die längliche Textexekutierung.

Bloß Oliver Dassing und Uwe Steinbach als suffselig rüpelndes Trinculo-Stephano-Gespann, Riki Edens als weibliche Hälfte des Ariel-Paares mit sirrendem Zaubergesang und die gutherzige Miranda – Rika Weniger vom Kammerteurtheater, der dem Kammertheater angeschlossenen Laienspielschar, ist gerade 15 Jahre alt – spielen sich, je länger, je mehr, ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Und natürlich Werner Hennrich. Als poloniushaft schräger Ratsherr Gonzalo trägt er die Vision vom guten Staat dermaßen ansteckend als Spaß-Aerobic-Nummer mit kleinen Luftsprüngen und fliegenden Fingern vor, daß bald das ganze Ensemble ihm nach die Arme und Beine schmeißt.

Der kahlköpfige Meister des Spreizhüpfers, nach 20 Jahren als Gast zurückgekehrt, gehörte zu den Gründern des Puppentheaters Neubrandenburg, die recht bald die Nachteile des Rückzugs in die Provinz zu spüren bekamen. Hinter Wäldern und Seen den Blicken der obersten Oberen entzogen, öffnete sich zwar der Raum für Experimente. Die seit 80 Jahren abgerissene Theatertradition in Neubrandenburg jedoch gebar Zuschauermißtrauen anstelle von Neugier.

Als die Jungkünstler allmählich das Publikum für sich gewannen und begannen, auf Festivals Preise einzuheimsen, hob das Antarktissyndrom sein häßlich' Haupt. Im gruppeninternen Gebälk, der mangels einer kulturellen Szene aufeinander zurückgeworfenen Lebens- und Arbeitskünstler, begann es zu krachen. Die Balken brachen 1979, als drei Kurt- Bartsch-Einakter über die Situation auf dem Bau das Mißfallen der kunstängstlichen Bürokratie erregten. Ein Teil der Gründergeneration, unter ihnen auch Hennrich, verließ die mecklenburgische Provinz und begann 1980 als „theater zinnober“ neu und unsubventioniert in der Hauptstadt. Die Geburtsstunde der ersten freien Truppe der DDR.

„Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig“ (Matthäus 24,13). Denn trotz „hochrangiger Kaderverluste“ und der immer wiederkehrenden Frage: „Kammer Theater noch machen, kammer das in dieser Stadt?“, entschieden sich die Puppenspieler, die längst auch selbst schauspielern, zu bleiben. Der Umbenennung in Kammertheater Neubrandenburg folgte 1994 – Geld aus Schleswig- Holstein machte die Renovierung möglich – der Umzug in das schon 1976 versprochene Comoedienhaus.

Trotz gleichbleibender Experimentierlust, das Haus ist etabliert. Als mittlerweile auch im Westen bekannter Geheimtip kann man sich vor Festival-Einladungen kaum noch retten. Für Unterstützung trommelt das Kammervolk, der Förderverein. Aber trotz ausgeweiteten Spielplans für Erwachsene lassen die inzwischen ergrauten ehemaligen Theaterrebellen am liebsten für die Dreikäsehochs die Puppen tanzen. Weil man den Kleinlingen nichts vormachen kann. Deren Spontaneität bildet für die Theatermacher das Kriterium ihrer Arbeit. „Etwas gemeinsam machen“ heißt das Hauptwort. Die Suche nach neuer Inspiration ist dabei wichtiger als schneller Erfolg. Es sieht ganz danach aus, als wohne hinter der Fassade des Stadttheaters noch immer die große Seele einer freien Truppe.