Plädoyer für die kreative Unruhe auf der Straße

■ T. Balistiers kulturwissenschaftliche Arbeit über Demonstrationen der 80er Jahre

Auch wenn heute noch vorkommt, daß Bauarbeiter Baustellen besetzen, Kohlekumpel Bonn lahmlegen oder Castor-Transporte zum Spektakel werden, besteht kein Zweifel: Die Zeiten sind vorbei, als Hunderttausende auf der Straße Politik machten. Der Gedanke an Straßenprotest erweckt heute nur Wehmut, Abgeklärtheit oder Dünkel. Da tut es gut, eine Protestkultur vor Augen geführt zu bekommen, deren Mobilisierungskraft und Symbolik die 80er Jahre in der Bundesrepublik zu einem herausragenden Jahrzehnt des Straßenprotests machten.

Der Kulturwissenschaftler Thomas Balistier hat eine Studie vorgelegt, die von 1979 bis 1989 die Proteste der Friedens-, Umwelt- und Frauenbewegung in der Bundesrepublik untersucht. Dabei stellt er klar, daß sich der Straßenprotest vor allem durch Zivilität und durch die Vielfältigkeit seines Aktionsrepertoires auszeichnete. Phantasie und Ausdauer machten die Straße zum vordergründigen politischen Handlungsfeld. Systematisch untersucht Balistier die Protestkultur der 80er Jahre, von den Protesten gegen die Startbahn West und Raketenstationierungen bis zu den Auseinandersetzungen um die Atomanlagen Brokdorf, Wackersdorf und Gorleben. Während bei den großen Friedensdemos Anfang der 80er Jahre noch die großen Zahl wirkte, entwickelte sich der Protest später differenziert und dezentral. Das Buch ist ein Plädoyer für die kreative Unruhe in der Öffentlichkeit.

Daß die neuen sozialen Bewegungen ihre Anschauungen und Lebensstile im Straßenprotest inszenierten, wertet Balistier als glücklichen „Schub an oppositionellem Engagement und zivilgesellschaftlicher Entwicklung in der Bundesrepublik“. Neben die traditionellen Protestformen, Kundgebung und Demonstration, traten „symbolisch-expressive“ Aktionen wie Menschenketten ebenso wie direkte Aktionen, Besetzungen und Blockaden. Dieser Variantenreichtum hat zu einer Protestkultur geführt, mit der die Straße nicht nur das „Odium der Antibürgerlichkeit“ verliert, sondern als „positive Möglichkeit des politischen Engagements“ erscheint.

Mit dem erfolgreichsten Straßenprotest dieses Jahrhunderts, der sämtliche sozialistischen Systeme in Osteuropa und der DDR sprengte, hat sich Balistier allerdings keinen Absatz lang beschäftigt. Und auch nicht mit der Frage, warum trotz dieser Manifestation von BürgerInnenmacht die westdeutschen Bewegungen nach 1989 sang- und klanglos untergingen. So bleiben nichts als nostalgische Reminiszenzen an die 80er Jahre. Thekla Dannenberg

Thomas Balistier: „Straßenprotest. Formen oppositioneller Politik in der Bundesrepublik Deutschland“. Westfälisches Dampfboot, Münster 1996, 360 Seiten, 48 DM